So richtig gut laufen die Geschäfte nur für einen Teil der Handelsunternehmen – die großen Diskrepanzen in der Branche prägen auch die Tarifrunde. Foto: dpa

Mit Real und Kaufhof haben sich jüngst zwei prominente Handelsriesen aus dem Flächentarifvertrag des Einzelhandels verabschiedet. Die abnehmende Tarifbindung wird Verdi bei den anstehenden Tarifverhandlungen schwer zu schaffen machen.

Stuttgart - Kurz vor Ostern setzt sich ein tarifpolitisches Schwergewicht in Bewegung: Am 17. April beginnt im Südwesten die Tarifrunde im Einzelhandel, die hierzulande 490 000 und bundesweit 3,1 Millionen Beschäftigte tangiert. Verdi fordert ein Lohnplus von 6,5 Prozent – mindestens aber 163 Euro, mithin ein Euro mehr für jede der 163 tariflichen Stunden im Monat.

Zudem soll das Mindesteinkommen künftig 2100 Euro betragen. Dies sieht Verdi eher als eine politische Forderung, um die Dimension der Gehälter im Handel deutlich zu machen. Denn es gibt einige Tarifgruppen, die unter diesem Wert liegen. „Davon kann man nicht leben“, sagt Verhandlungsführer Bernhard Franke. Es sei ein „gesellschaftlicher Skandal, dass ein großer Teil der Beschäftigten trotz Arbeit arm ist“. In einem ordentlichen Tarifvertrag müsste daher das Niveau von 2100 Euro erreicht werden.

Kaum noch Verhandlungspartner für Verdi

Franke sieht eine schwierige Tarifrunde aufziehen, bei der es wieder problematisch werden könnte, einen Abschluss zu erzielen. Hauptgrund ist die Tarifflucht, die nochmals an Fahrt gewonnen hat: Nachdem Kaufhof und Real aus dem Flächentarifvertrag ausgestiegen sind, „haben wir es nur noch mit einem kleinen Kreis von Händlern zu tun, die mit uns tatsächlich verhandeln“.

Amtliche Statistiken gibt es dazu nicht. So operiert Verdi seit Jahren mit Analysen von Wirtschaftsinstituten, wonach nur noch 30 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel und 21 Prozent im Groß- und Außenhandel in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Die Fälle Real und Kaufhof würden diese Quote nochmals deutlich reduzieren, mutmaßt der Landesfachbereichsleiter. Auch die Frage, wie viele Beschäftigten vollends von einem Tarifabschluss profitieren, lässt sich demnach nicht genau ermitteln.

Handelsverband strikt gegen Allgemeinverbindlichkeit

Bereits zur Jahrtausendwende hatten sich die Handelsarbeitgeber von der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge verabschiedet und damit die Tarifflucht großen Stils erst ausgelöst. Je mehr diese voranschreitet, desto erbitterter kämpft Verdi darum, zum alten Zustand zurückzukommen. Doch damit läuft die Gewerkschaft bei den Arbeitgebern beharrlich gegen die Wand.

„Eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge ist mit uns auf gar keinen Fall zu machen“, betont Sabine Hagmann, die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbandes Baden-Württemberg. Der Flächentarifvertrag sei ihr zwar sehr wichtig, denn Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssten fair miteinander umgehen – dazu brauche es verlässliche Regeln. Aber die Mantel- und Entgeltverträge seien in Teilen völlig veraltet und müssten überarbeitet werden. „Da kann ich Unternehmen verstehen, wenn sie ein paar Regeln nicht gut finden und nicht gebunden werden wollen.“

Auch grundsätzlich habe der Handelsverband Einwände, sagt Hagmann mit Verweis auf das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit, wonach niemand dazu gezwungen werden darf, einem Arbeitgeberverband oder einer Gewerkschaft beizutreten. „Daher verbietet sich jeglicher Gedanke an eine Allgemeinverbindlichkeit.“

Zäher Kampf auf der politischen Ebene

Auf politischem Wege allgemeinverbindliche Tarifverträge zu fördern, daran hatte sich schon die frühere Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) erfolglos versucht. Verdi verlangt unter anderem, die Blockademöglichkeit der Arbeitgeber in den paritätisch besetzten Tarifausschüssen auszuhebeln. Doch dass der amtierende Minister Hubertus Heil (SPD) da mehr erreicht als die Vorgängerin, erscheint zweifelhaft.

Nach früheren Angaben des Handelsverbandes Deutschland (HDE) sind 38 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel in unmittelbar tarifgebundenen Unternehmen tätig. Darüber hinaus sei bei 60 Prozent des Personals im Westen, das bei nicht tarifgebundenen Firmen tätig ist, eine Orientierung an den Tarifgehältern festzustellen. Und lediglich drei Prozent aller Beschäftigten seien Verdi-Mitglieder, fügt Hagmann hinzu.

Die wirtschaftliche Lage der Branche bezeichnet die Hauptgeschäftsführerin als „sehr komplex“. Es gebe viele Herausforderungen wie die Digitalisierung, mehr Bürokratie und härteren Wettbewerb. „Dies stellt gerade mittelständische und kleinere Unternehmen vor Herausforderungen.“ Auch aus diesem Grund sei die 6,5-Prozent-Forderung der Gewerkschaft für ihre Seite unverständlich. Verdi-Funktionär Franke kontert: „Die Arbeitgeber behaupten im Einzelfall immer, dass es ihnen schlecht geht, was für Teile der Branche ja auch stimmt – im Großen und Ganzen haben sie aber hervorragende wirtschaftliche Kennziffern.“