Großer Andrang: Blick in die Stuttgarter Vesperkirche. Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Tafeln und Vesperkirchen lindern Armut, aber bekämpfen sie nicht, sagen Sozialforscher und -arbeiter. In Stuttgart läuft noch bis nächsten Samstag die 23. Ausgabe der jährlichen Massenspeisung für Arme – doch das findet längst nicht jeder gut.

Stuttgart - Hermann Rupprecht macht Schluss. Endgültig. Am Dienstag legt der Vorstandsvorsitzende des Vereins Nürnberger Tafel sein Ehrenamt nieder. Vor elf Monaten hatte der frühere Logistikmanager übernommen, investierte als Ruheständler bis zu 100 Stunden Arbeit pro Woche. Sein Ziel, die aus dem Ruder gelaufene Verteilung von wöchentlich 20 bis 25 Tonnen Lebensmitteln an 6000 Bedürftige neu zu organisieren, hat der 60-Jährige trotzdem verfehlt. Zuletzt fiel in der Vereinsversammlung sein Plan durch, ein Wohlfahrtsunternehmen als Träger ins Boot zu holen. Eine Mehrheit wollte, dass die Tafel rein ehrenamtlich bleibt.

„Die Tafel ist stark expandiert, aber die Struktur ist nicht mitgewachsen. Der Verein hat sich überlebt“, urteilt Rupprecht. Vier bis fünf Schlüsselstellen müssten hauptamtlich besetzt werden, Kostenpunkt: rund 200 000 Euro. Aus Beiträgen der 300 Vereinsmitglieder und Spenden sei das nicht zu finanzieren. Es sei unabdingbar, an einen professionellen Träger zu übergeben. Wie es gehen könnte, zeigt die schon laufende Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz. Es war im Oktober mit Personal eingesprungen, nachdem die Tafel kollabiert war und für zwei Wochen hatte schließen müssen. Was wird nun in Nürnberg? „Die Tafel ist unersetzlich, die Menschen brauchen uns“, mahnt Rupprecht. Er aber steht bald nicht mehr in der Verantwortung. Resigniert sagt er: „Ich habe mich aufgebraucht.“

Aussortierte Supermarktware an Arme verteilen und die Welt so ein klein wenig besser machen – diese Idee stand am Anfang der Tafelbewegung. 2018 wird sie 25 Jahre alt, doch ihre Erfolgsgeschichte ist ungebrochen. Allein im Bundesverband der Tafeln gibt es mehr als 900 Anbieter mit 2000 Ausgabestellen. 60 000 Freiwillige unterstützen mit Lebensmittelspenden bis zu 1,5 Millionen bedürftige Menschen, darunter viele Arbeitslose, Geringverdiener, Rentner, Alleinerziehende und Migranten.

Die Tafeln fressen das Ehrenamt auf

Doch der Erfolg wird von Armutsforschern längst äußerst kritisch gesehen. „Die Tafeln sind ursprünglich angetreten, das Überflüssige zu verteilen. Diese pragmatische Idee haben sie schleichend ersetzt durch das Ziel, das Fehlende zu ersetzen“, erklärt Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen. Darin liege eine „systematisch eingebaute Überforderung“, die sich auch in der Nürnberger Tafelkrise zeige. Mit anderen Worten: Die Tafeln fressen das Ehrenamt auf.

„Es gibt einige sehr kleine Tafeln, die haben tatsächlich noch eine ehrenamtliche Leitung“, weiß Annerose Zaiser, Geschäftsführerin des Kreisdiakonieverbands Hohenlohe und verantwortlich für die Öhringer Tafel. Wenn eine gewisse Dimension erreicht sei, „geht es nicht mehr ohne hauptamtliche Kräfte, da braucht man jemand, der den Ablauf steuert“.

Selke weigert sich strikt, von einer Tafelbewegung zu sprechen. „Das Wesen einer sozialen Bewegung und auch einer sozialen Utopie ist, dass sie einen systemverändernden Charakter hat. Die Tafeln dagegen sind von Grund auf affirmativ“, sagt er. Noch schlimmer sei, „dass sie die kapitalistische Steigerungslogik in ihr System eingebaut haben: immer mehr, immer größer, immer effizienter“. Das werde so weiter gehen, prophezeit Selke, weiter „in Richtung Professionalisierung und Management des Ehrenamts“. Natürlich sei das auch eine direkte Folge der staatlichen Sparpolitik im Sozialbereich, es werde aber den Staat dazu animieren, sich noch weiter aus der Verantwortung zu nehmen.

Die Vesperkirche – ein soziales Großevent

Für Selke ist die Tafelbewegung „dauersynchronisiert mit Interessen anderer Akteure“. Er findet das entlarvend. „Die Politik ist froh, dass es die Tafeln gibt, und verweist gerne in symbolischer Überhöhung auf sie. Die Unternehmen nutzen die Tafeln zum Reputationsmanagement.“ Es gehe ihnen nicht um das bisschen Geld, das sie sparen, weil sie weniger Biomüll entsorgen müssen. Es gehe „um das Vermarkten einer guten Moral“.

Neben den Tafeln zählen Armutsforscher auch die Vesperkirchen zur Mitleidsökonomie. In Stuttgart läuft noch bis nächsten Samstag die 23. Ausgabe der jährlichen Massenspeisung für Arme. In der Leonhardskirche geben täglich 50 ehrenamtliche Helfer und sechs hauptamtliche Kräfte der federführenden evangelischen Landeskirche 600 warme Mahlzeiten aus, insgesamt sieben Wochen lang. Es ist ein soziales Großevent mit hochkulturellem Beiprogramm, Promis aus Politik und Wirtschaft geben sich ein Stelldichein und packen medienwirksam mit an.

Um die Mittagszeit ist das Kirchenschiff rappelvoll. Man sieht leuchtende Gesichter, es wird viel gelacht beim Essen. Inmitten des Trubels sitzt Dekan Klaus Käpplinger, Chef der Vesperkirche. „Wir machen das nicht aus Spaß oder um der Kirche eine gute Presse zu verschaffen. Unser Ziel muss ein, die Ursachen der Not zu beseitigen“, betont er. Deshalb suche man in der Vesperkirche das Gespräch mit der Politik und dringe darauf, die Armen insbesondere in ihrer Wohnungsnot nicht zu vergessen. „In Stuttgart müssen auch Menschen mit geringen Einkommen leben können, der soziale Mix muss stimmen“, mahnt Käpplinger. Sonst gebe es künftig vielleicht abgezäunte Residenzgebiete mit Wachpersonal für die Reichen.

Der Sozialstaat rechnet mit der Nothilfe

Den Vorwurf, Tafeln und Vesperkirchen linderten Armut, änderten aber nichts daran, kennt Käpplinger. „Damit müssen wir leben. Aber was, wenn wir nicht helfen? Arme Menschen würden noch weniger im Fokus stehen“, meint er. „Natürlich wirken wir stabilisierend und sorgen für Ruhe, indem wir die Leute raus aus dem Stadtbild nehmen. Wir gehen ja nicht alle rüber zum Breuninger und bleiben zwei Stunden protestweise dort stehen. Solche Ideen haben wir auch gar nicht“, erklärt Käpplinger und lacht.

Michael Knecht ist nicht zum Lachen beim Thema Vesperkirche. Er ist stellvertretender Geschäftsführer der Ambulanten Hilfe Stuttgart, die sich um wohnungslose Menschen kümmert. „Die Vesperkirche saugt Unmengen an Spenden und ehrenamtlicher Kapazität ab in der Stadt. Und das alles für wenige Wochen, danach hat sich überhaupt nichts verändert. Die Leute gehen, wie sie gekommen sind“, schimpft der Sozialarbeiter. Der Staat müsse die Grundsicherung endlich armutsfest ausgestalten, unterlasse dies aber auch deshalb, weil er auf die Nothilfe der Mitleidsökonomie zählen könne. Knecht: „Wenn jemand mittellos im Jobcenter steht, dann kriegt er zu hören, er könne ja zur Tafel gehen oder in die Vesperkirche.“