Folteropfer 621 heißt eigentlich Aghyad: Heute lebt der Syrer in Böblingen – seinen Nachnamen will der 33-Jährige nicht verraten. Foto: Max Kovalenko

Tausende syrische Häftlinge sind zwischen März 2011 und August 2013 von Schergen des Assad-Regimes gefoltert worden. Aghyad, eines der Opfer, lebt heute in Böblingen.

Tausende syrische Häftlinge sind zwischen März 2011 und August 2013 von Schergen des Assad-Regimes gefoltert worden. Aghyad, eines der Opfer, lebt heute in Böblingen.

Böblingen/Damaskus - Nummer 621 war alles „scheißegal“, nachdem er drei Monate lang die Hölle auf Erden erlebte. Mit dem Gedanken, lebend da rauszukommen, hatte er eigentlich schon lange abgeschlossen. „Da“, das sind die Foltergefängnisse des syrischen Geheimdienstes. Der Ort nennt sich Amt für Luftaufklärung, doch die Zuständigkeit der dortigen Arbeiter geht weit über Luftaufklärung hinaus. „621, kommen Sie bitte mit uns“, habe es eines Tages geheißen. Noch am selben Tag war er frei.

Nummer 621 heißt Aghyad. Heute lebt er in Böblingen. Seinen Nachnamen will der 33-Jährige nicht verraten. Im August 2012 sei er von Baschar al-Assads Regierungstruppen verschleppt worden, sagt er. Drei Monate lang wurde er gefoltert. Aghyads Schilderungen erhärten den Verdacht von Menschenrechtsorganisationen, dass Geheimdienstarbeit in Syrien willkürlich und verbrecherisch ist.

Aghyad wischt mit seinem krummen Daumen auf seinem Smartphone herum. Krumm ist der Finger, weil man ihn gebrochen hat. Aghyad zeigt ein Bild, das einen gut durchtrainierten Burschen zeigt, der selbstbewusst und freundlich lächelt. „So sah ich früher aus“, sagt er. Der Mann auf dem Foto ist nicht wiederzuerkennen – so düster ist die Miene heute.

Schreckliche Folter-Bilder

Der Syrer zeigt weitere Bilder. Die Aufnahmen wurden Ende 2012 unmittelbar nach seiner Inhaftierung gemacht. Ein zerschundener Körper, der Rücken mit blauschwarzen Flecken übersät. An manchen Stellen fehlt die Haut ganz – nur das rosafarbene Fleisch ist sichtbar. „Mit dem Elektroschocker herausgebrannt“, sagt Aghyad. Er wischt erneut über das Smartphone. Hände und Füße sehen auch nicht besser aus. Dass Aghyad bis heute in psychologischer Behandlung ist, verwundert aufgrund der Bilder nicht. Im August 2012 ist der junge Mann in Damaskus auf dem Weg zur Arbeit, als er im Stadtzentrum in der Bagdad-Straße in eine Kontrolle gerät. Nachdem er sich ausgewiesen hat, geht alles ganz schnell: Ein Schlag mit dem Gewehrkolben trifft ihn auf die Nase. Mit verbundenen Augen wird er in einen Jeep geschleppt.

Die Fahrt bringt Aghyad zum Flughafenstützpunkt des berüchtigten Amtes für Luftüberwachung. Dort war in der Ära Hazif al-Assads, des Vaters des derzeitigen Machthabers Baschar al-Assad, der einflussreichste syrische Geheimdienst und das wichtigste Machtsicherungsorgan der Familiendynastie entstanden. Was Recht und Gesetz für diesen Dienst bedeuten, sollte Aghyad in den nächsten drei Monaten erfahren.

Der 33-Jährige wird mit verbundenen Augen zu einem Offizier geführt. Zu sehen bekommt Aghyad ihn nie. „Er wollte Namen – von anderen Oppositionellen“, erinnert sich Aghyad. Dabei habe er nie etwas mit bewaffneten Rebellen zu tun gehabt. Der Offizier schenkt ihm keinen Glauben – und lässt ihn an der Decke aufhängen. „Der ist kräftig, der erträgt das schon“ , soll der Geheimdienstmann seine Handlanger instruiert haben, Aghyad zu foltern. Alle zwei bis drei Stunden, tagelang. Der Syrer erzählt von Auspeitschungen, von kochendem Wasser, das über ihn geschüttet und von Zigaretten, die auf seiner Haut ausgedrückt wurden. Davon, wie Assads Schergen ihm Fingernägel herausrissen und ihn mit Elektroschockern quälten.

Aghyad bekommt eine Nummer: 621

Aghyads Erfahrungen decken sich mit Berichten von Menschenrechtsorganisationen. „Uns liegen Informationen vor, die genau das bestätigen, was Aghyad erzählt“, sagt Ferdinand Muggenthaler von Amnesty International. Laut einem Bericht von Human Right Watch aus dem Jahr 2012 häufen sich besonders um Damaskus Schilderungen von solchen Foltermethoden. Demnach ist der Luftwaffenstützpunkt nur eines von zehn Foltergefängnissen, die allein in der Hauptstadt betrieben werden.

Der Offizier, sagt Aghyad, sei jeden Tag einmal zu ihm gekommen. „Redest du jetzt?“ Am dritten Tag habe er geredet. Und Namen von Oppositionellen preisgegeben. Was aus ihnen geworden ist, wisse er bis heute nicht.

Seine Hoffnungen, dadurch wieder auf freien Fuß zu kommen, erfüllen sich nicht. „Du bist jetzt 621“, wird Aghyad bloß mitgeteilt. Er findet sich in einem fensterlosen Raum mit etwa 70 anderen Männern wieder, alle ebenfalls mit einer Nummer versehen. Es herrscht Redeverbot. Wenn die Aufseher kommen, müssen sich alle mit dem Gesicht zur Wand stellen. „Wie beim Lotto wurden Zahlen aufgerufen. Dann haben sie die Männer, die den Nummern zugeteilt waren, ausgepeitscht“, so Aghyad. Zustände, die dazu geführt hätten, dass im Durchschnitt einer täglich gestorben sei.

Die Furcht bleibt

Nachdem sich seine Wunden entzündet hatten, wird 621, anders als viele anderen Insassen, in ein Militärkrankenhaus gebracht. Als Aghyad dort das Bewusstsein zurückerlangt, befindet er sich mit anderen Verletzten in einem Krankenzimmer. Ans Bett gefesselt. Er sieht die syrische Staatsflagge auf dem Umayyaden-Platz. „Wann wird diese Farbe grün?“, fragt ein Zimmergenosse. Er spricht von der Flagge der syrischen Revolution. Eine Stunde später ist der Mann tot. Er ist seinen Folterverletzungen erlegen. Andere, noch am Leben, haben zerschlagene Gesichter, amputierte Beine oder Arme.

Aghyad hält kurz inne, als er das erzählt. Die Szenen vor seinem geistigen Auge quälen ihn sichtlich. Wie diese aussehen müssen, davon geben die Bilder eines syrischen Militärpolizisten einen Eindruck. Der Deserteur mit dem Decknamen „Caesar“ hat Zehntausende Aufnahmen außer Landes geschmuggelt. Darauf zu sehen: die Leichen von etwa 11 000 Häftlingen, die zwischen März 2011 und August 2013 von Regime-Schergen gefoltert wurden. Sie sind verhungert, wurden stranguliert, verprügelt oder auf andere Art misshandelt. Manchen Gefangenen wurden die Augen ausgestochen, andere zeigen Spuren von Elektroschocks. Es war Caesars Aufgabe, die getöteten Gefangenen zu fotografieren. Die Bilder dienten in der Bürokratie des Regimes als Beweis dafür, dass die Befehle zur Tötung tatsächlich ausgeführt wurden. Die Fotografien wurden in einem Militärkrankenhaus aufgenommen.

Aghad findet wieder Worte. Sein Zustand hatte sich gebessert, erzählt er weiter. Doch die Furcht blieb. „Ich hatte Angst, wieder zurück in die Zelle zu müssen“, sagt er. Und tatsächlich: 621 wird abgeholt. Er wird allerdings nicht in die Folterzelle zurückgeschickt, sondern einem Richter vorgeführt. „Jetzt werde ich also offiziell hingerichtet“, denkt 621.

Die Flucht nach Deutschland

Er steht mit rund 20 weiteren Männern vor Gericht. Die Anklage wird verlesen: Sie hätten gegen das Regime demonstriert. Dann bittet der Richter zu Einzelgesprächen. Der Mann sollte zum Lebensretter werden – Aghyad könne gehen, sagte er. Doch der Richter hat noch einen Rat für den nun freien Mann: Er solle niemals erwähnen, was in der Haft passiert sei. Daran wird sich Aghyad nicht halten.

Minuten später findet er sich auf einer Straße in Damaskus wieder. Barfuß, aber als freier Mann. Mit ein paar syrischen Lira in der Tasche, die ihm der Richter mit auf den Weg gab, bestellt er sich ein Taxi. Seine Reise führt ihn in den Libanon. Im September 2013 ist er unter den ersten 117 Flüchtlingen aus Syrien, die nach Deutschland kommen. Mit Schwester, Mutter, Vater und Neffe. Seine heutige Ex-Frau ist in Damaskus geblieben. Was Aghyad ihr nicht verzeihen kann. „Wir haben uns getrennt“, sagt er. Seinen Sohn, mit dem seine Frau während Aghyads Gefängnisaufenthalt schwanger war, hat er bis heute nie gesehen. 621 kann er dagegen nicht vergessen, obwohl er ihn am liebsten niemals kennengelernt hätte. „Er wird immer ein Teil von mir sein“, sagt Aghyad.