Blick aus der Türkei aus Kobane: Die nordsyrische Stadt ist zum Symbol des Widerstands geworden, wo es den Kurden gelungen ist, die IS-Kämpfer zumindest aus einigen Vierteln zurückzudrängen Foto: EPA

Jeden Tag sterben Kurden, jeden Tag töten Kurden in Kobane. Ihre Verwandten sehen zu, der Krieg ist ihr Alltag geworden. Manchmal wirkt es fast, als beobachteten sie ein Fußballspiel.

Suruc/Kobane - „Da vorne ist mein Haus“, sagt Ahmet und zeigt mit dem Finger irgendwo in die Stadt, die er durch sein Fernglas ganz nah sieht. Ahmet kommt aus der Kurdenstadt Kobane in Nordsyrien, die seit fast drei Monaten von der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ angegriffen wird.

Ahmet und etwa 20 andere Männer stehen fast jeden Tag auf dem Dach einer Moschee und zoomen sich den Krieg per Fernglas in das türkische Dorf Mahzar. Ein paar Kilometer hinter dem Stacheldraht raucht und brummt die Stadt, die im Sommer noch ihr Zuhause war. Jetzt rennen, ducken und ermorden sich hier die Terroristen und die Kämpfer der kurdischen Volksschutzeinheit (YPG). Ahmet kann sehen, wenn seine Verwandten und Bekannten erschossen werden, er jubelt über Explosionen in manchen Teilen der Stadt und zischt Flüche, wenn es in den Vierteln knallt, in denen die Kurden die Stellung halten. Er wartet auf jede amerikanische Bombe. Heute fiel nur eine am späten Nachmittag, Ahmet ist ein wenig enttäuscht.

Wie er da mit seinen Bekannten steht und das Kriegsgeschehen kommentiert, könnte man meinen, die Männer stünden am Fußballfeld. „Die haben getroffen, schau doch“, sagt Abdullah, Ahmets neuer Freund aus dem türkischen Suruç. Ahmet winkt ab. „Quatsch“, sagt er und gibt Abdullah das Fernglas zurück. Die beiden haben sich erst vor wenigen Tagen kennengelernt, hier auf dem Dach der Moschee. Ihre Häuser lagen nur etwa zehn Kilometer auseinander, Ahmet und Abdullah sprechen den gleichen kurdischen Dialekt. Allerdings hat Ahmet einen syrischen, Abdullah einen türkischen Pass. Sie streiten ein wenig über das Kampfgeschehen, dann schauen sie wieder schweigend in ihren neuen Alltag, in dem Ferngläser das Fernsehen ersetzt.

Am späten Nachmittag wird es schwarz vor den Ferngläsern. Die Sonne geht unter, außer seltene Explosionen gibt es nichts mehr zu sehen. Die Männer steigen hintereinander vom Dach. Manche beten, andere vertreten sich die Füße oder schleppen einen riesigen Kessel voll Suppe in den Innenhof der Moschee. „Hee, komm essen“, ruft eine Frau mit weißem Kopftuch allen zu, die vorbeigehen und sich noch nicht angestellt haben. Die Kurden aus Suruç und Kobane sitzen hier gemeinsam auf Kissen und essen Suppe, eine alte Frau summt ein YPG-Lied.

Die Männer und Frauen, die gerade in Kobane kämpfen, sind das Hauptgesprächsthema, aber nicht das einzige. Dafür ist die Situation zu normal geworden. Immer mal wieder wird gelacht: Manchmal machen sie sich über die türkische Regierung lustig oder belächeln die IS-Terroristen, die sie „Banditen“ nennen. Einer lästert auch über die Peschmerga-Kämpfer aus dem Nordirak, die von den westlichen Medien als Retter gefeiert werden und unter vielen syrischen und türkischen Kurden unbeliebt sind.

Rund einen Monat nach Ankunft der Peschmerga-Kämpfer ist inzwischen die erste Kampfeinheit abgelöst worden. Ein zweiter Trupp von 150 irakischen Kurden habe die Grenzstadt von der Türkei aus erreicht, verlautete am Donnerstag aus Peschmerga-Kreisen. Die erste, ebenfalls aus 150 Kämpfern bestehende Gruppe habe Kobane inzwischen verlassen und sei auf dem Weg zum Flughafen. Die Ablösung sei bereits am Dienstagabend eingetroffen. Kobane hat strategisch keine Bedeutung. Die Stadt ist aber international zu einem Symbol für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) geworden, der in den vom ihm beherrschten Teilen Syriens und des Irak ein Kalifat ausgerufen hat.

Wahrscheinlich haben Ahmet und die anderen Menschen aus Kobane auch Angst. Darüber spricht aber niemand. Die IS-Terroristen haben ihre Häuser zerstört, viele Frauen vergewaltigt und sollen nicht nur die YPG-Kämpfer, sondern auch gezielt Zivilisten ermorden. Wann und ob die Kurden zurück nach Syrien können, ist absolut unklar. Bisher konnten die YPG-Kämpfer die Stadt halten. Unterstützung aus der Luft kam von einer internationalen Terrorallianz, angeführt von den USA. Trotzdem ist die Zukunft Kobanes zerbröckelt.

Hoffnungen der IS-Gegner, dass sich mit der Ankunft der ersten Peschmerga Anfang November das Blatt wenden könnte, haben sich bisher nicht erfüllt. Auch die von den Kurden-Kämpfern mitgebrachten schweren Waffen und die Luftangriffe der von den USA geführten Allianz gegen den IS haben das Kräfteverhältnis bisher nicht maßgeblich verändert.

Als demokratisches Projekt versuchte sich die kurdische Autonomie „Rojava“ aus den Wirren des syrischen Bürgerkrieges zu lösen. Knapp zwei Jahre lebten die syrischen Kurden in selbstverwalteten Kantonen, regiert von der PKK-nahen Partei PYD und wirtschaftlich blockiert von fast allen Nachbarländern. Vor den IS-Angriffen kämpften sie gegen die Terroristen von Jabhat al-Nusra, andere syrische Rebellen und gegen das Assad-Regime. Eigentlich haben die Kurden keine Chance gegen die selbst ernannten „Gotteskrieger“. Sie sind ihnen an Waffen und Kämpfern unterlegen.

Hunderttausende Menschen sind vor den IS-Terroristen in die Türkei geflohen, Sie verteilen sich auf die verschiedenen Flüchtlingscamps an der Grenze und im Landesinneren, manche sind bei Verwandten untergekommen.

Etwa 6000 Menschen leben derzeit im staatlichen Flüchtlingscamp Arîn Mirxan in der türkischen Grenzstadt Suruç. Das Camp ist eines der besten Flüchtlingslager, hübsch gemacht für die vielen internationalen Journalisten und Politiker, die hier ihre Engagement zeigen wollen. Verglichen mit anderen Flüchtlingslagern wirkt es fast schon schick: Die grauen Zelte stehen auf weißen Schottersteinen, nicht auf der nackten Erde. Staatliche und internationale Hilfsgüter kommen hier an, Ärzte behandeln die vielen Verletzten.

Eine von ihnen ist Cemila. Sie ist hübsch. Um den Kopf trägt sie ein dunkles Tuch und eine bunte Kuscheldecke um das, was von ihrem linken Bein übrig geblieben ist. Sie ist auf der Flucht vor den IS-Terroristen in eine der Minen getreten, die der Diktator Assad bereits vor zwei Jahren in die Grenzgebiete legen ließ, um die Syrer davon abzuhalten, das Land zu verlassen. Cemila ist trotzdem in die Türkei geflohen, wie etwa zwei Millionen weitere Syrer seit Beginn des Bürgerkrieges. Ihr Unterschenkel wurde dabei zerfetzt, aber Cemila spricht nicht darüber. Sie spricht auch nicht über ihre Angst, auch nicht darüber, wie sie ihre sechs Kinder großziehen soll, ohne Bein und zur Zeit auch ohne Mann. Der ist noch in Kobane.

Das einzige, was Cemila immer und immer wieder sagt, ist: „Ich will nach Hause. Wir gehören nach Kobane, ich kann nicht in der Türkei bleiben.“ Ihr einjähriger Sohn Yusuf weint, zwei ihrer älteren Kinder sitzen schweigend im Zelt und starren die Besucher an. Tagsüber geht es noch, aber die Nächte sind bitterkalt. Es fehlt an Medizin, an Decken, an Babymilch. Die Kinder sind ständig krank und der Winter beginnt gerade erst. Im Gespräch wirken die meisten Menschen hier im Lager nicht verzweifelt, nicht hoffnungslos, sondern in erster Linie wahnsinnig ungeduldig. Auf jede Frage erwidern sie, dass sie schnellstmöglich zurück nach Kobane wollen. Das Vertrauen in die YPG-Kämpfer scheint riesig zu sein.

Einer von ihnen ist Aram. Er ist Anfang zwanzig, trägt ein schwarzes T-Shirt mit der goldenen Aufschrift „I love Berlin“ und ein buntes Blumentuch um den Kopf. Ein Bein schleift er hinter sich her. Aram möchte nicht so recht herausrücken, wie er sich verletzt hat. Er hat für die YPG gekämpft, hat ein wunderschöne braune Augen, spricht von Menschenrechten und Demokratie – und hat Menschen getötet, wie so viele hier im Lager.

Die Kurden haben alle Gründe, ihre Enklave gegen die Terroristen zu verteidigen, keiner möchte seine Frauen in ihren Händen wissen oder gar in dem selbst ernannten Kalifat Abu Bakr al-Baghdadis leben. Dennoch hat die Selbstverständlichkeit des Tötens etwas Beklemmendes. Sterben kurdische Kämpfer, werden sie zu Märtyrern, wie die Namensgeberin des Lagers, Arîn Mirxan. Sie hatte sich in einer Gruppe Terroristen in die Luft gesprengt. Angeblich hatte sie keine Munition mehr. In IS-Gefangenschaft wäre sie wohl vergewaltigt, gefoltert und wahrscheinlich ermordet worden. Arîn Mirxan wird gefeiert. Die Menschen im Lager haben zur Zeit andere Sorgen als ethische Debatten über Selbstmordattentate.

Aram würde gerne weitertöten, auf der Stelle. Er kann nicht, wegen seines Beins und wegen der Grenze. Die war zwar in den letzten Jahren für die Flüchtlinge aus Syrien und für Dschihadisten aus aller Welt offen, seit der Krise in Kobane ist sie an den meisten Stellen dicht. Zwar lassen die türkischen Behörden mittlerweile syrische Kurden zurück, allerdings müssen die dafür ein Passfoto machen lassen, Fingerabdrücke abgeben und darauf warten, bis die langsame Bürokratie sich in Gang setzt.

Also wartet Aram. Darauf, dass sein Bein heilt, darauf, dass er irgendwann zurück kann. Solange humpelt er durch das Lager, trinkt mit anderen jungen Männern Tee, zieht frechen Kindern an den Ohren und klopft einem Freund mit Down-Syndrom auf die Schulter. Dinge, die zu dem Alltag gehörten, bevor er anfing zu töten.