Sahel, Abdul und Hassan auf dem Weihnachtsmarkt in Stuttgart. Foto: Maier

Tausende Flüchtlinge kommen in diesen Monaten neu nach Deutschland. Wie erleben sie die neue Heimat? Welche Schwierigkeiten haben sie – und wie gehen sie damit um? Unsere Autoren begleiten drei junge Syrer in einem Langzeitprojekt.

Stuttgart -  Abdul zittert ein wenig  –  er hat keine Jacke mitgenommen. Manchmal vergisst er, dass es nach Einbruch der Dunkelheit ganz schön kalt wird in Deutschland. Immerhin, der heiße Punsch wärmt ein bisschen von innen. Und schmeckt nicht einmal schlecht: süß und würzig, sagt Abdul (26). Nicht ganz so süß wie der Tee in seiner Heimat Syrien – aber süßer als das, was es sonst so gibt in der Flüchtlingsunterkunft. Für Abdul, seinen Bruder Sahel (25) und Cousin Hassan (24) ist es der erste Besuch auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt. Und das erste Mal, dass sie Punsch trinken. Noch immer haben sie sich nicht an alles gewöhnt, was hier neu für sie ist. Und noch immer finden sie manches seltsam – auch nach drei Monaten im Land.

Anfang September kamen die drei Syrer am Hauptbahnhof in Stuttgart an. Sie wollten weg aus Syrien, weil sie nicht für die Armee von Baschar al-Assad kämpfen wollten. Die ersten Wochen in Deutschland verbrachten die drei in der Landeserstaufnahmestelle (Lea) in Karlsruhe – wurden registriert, untersucht, lernten die ersten Sätze Deutsch. Seit Mitte Oktober leben Sahel, Abdul und Hassan nun in einer Turnhalle in Stuttgart-Obertürkheim. Zusammen mit 120 weiteren Geflüchteten, vor allem Familien mit kleinen Kindern.

Notunterkunft: Enger Alltag

An die Unterkunft zum Beispiel haben sie sich noch nicht gewöhnt. Immerhin, der Krieg ist weit weg und sie fühlen sich sicher – deswegen seien sie ja gekommen, sagt Sahel. Der Alltag ist trotzdem nicht immer einfach: „Es ist eigentlich ständig laut in der Turnhalle“, erzählt er. Ausbrüche aus dem Flüchtlingsalltag suchen die drei jungen Männer deshalb häufig. Die Weinberge neben der Unterkunft mögen sie gerne und den Killesberg. Ihren Tagesablauf haben sie, so weit wie möglich, aus der beengten Turnhalle heraus verlegt: Von 9 bis 13 Uhr besuchen sie Deutschunterricht, der in einer Kirche nahe der Flüchtlingsunterkunft angeboten wird.

Nach dem Mittagessen gehen die jungen Männer meist in die Stadtbibliothek am Mailänder Platz – zum Lernen. „Dort gibt es Laptops und Internet“, sagt Abdul und fügt hinzu: „Wir lernen Deutsch mit Sprachvideos.“ Denn die Sprache, sagt Hassan, sei eigentlich das Schwerste am Leben in der neuen Welt. Er nimmt einen Schluck aus dem Punschbecher, schaut auf die bunt beleuchteten Weihnachtsmarktstände und die vielen Menschen um ihn herum und überlegt. Vielleicht liegt es aber nicht nur an der Sprache, dass sie vieles noch nicht so ganz verstehen in ihrer neuen Heimat.

Stadtleben: Neues Zuhause

Alles hier sei anders, als sie es sich vorgestellt hatten, sagt Sahel. Die Straßen sind nicht so menschenleer. Die Gehwege nicht so sauber: „Dass es stellenweise schmutzig ist, hätte ich nie gedacht“, sagt er. „In Syrien sind die Straßen normalerweise ganz sauber.“ Ein bisschen erstaunt sie das noch immer. Auch, dass das Internet hier langsamer ist als in Syrien. Sie dachten, Deutschland sei ein Land des technologischen Vorsprungs, sagen sie und grinsen etwas verlegen.

Anders ist auch, dass sie hier überall und jederzeit ihre Meinung sagen dürfen, mitten auf der Straße frei über Politik sprechen können – auch, wenn ihnen einmal etwas nicht gefällt. In ihrer Heimat war ihnen das nicht möglich. „Meine Mutter sagte immer: Pass gut auf, die Wände haben Ohren!“, erinnert sich Abdul. In Syrien habe man nie so genau gewusst, wem man trauen könne, erzählt er. Dass das nun anders ist, finden sie manchmal noch immer unbegreiflich – und sehr faszinierend. Daran gewöhnt haben sie sich schnell.

Und noch etwas fällt ihnen auf, hier, in der neuen Umgebung. „Man sieht viele alte Menschen auf den Straßen“, sagt Abdul. „Vor ein paar Tagen kam eine 73-jährige Frau in die Unterkunft – auf dem Fahrrad!“ Ein ungewöhnlicher Anblick für Menschen, die aus einem Land kommen, in dem der Altersdurchschnitt bei 21,9 Jahren liegt – statt bei 44,1 Jahren wie in Deutschland. Es ist eine andere Welt mit ganz anderen Regeln, in der sie da gelandet sind.

Geflüchtete Menschen auf ihr neues Leben vorzubereiten und sie in die Gesellschaft zu integrieren ist nun die drängendste Aufgabe der Stadt Stuttgart. Hier sind momentan 6231 Flüchtlinge in 94 Unterkünften vorläufig untergebracht (Stand: Ende November 2015). Monatlich kommen derzeit im Schnitt etwa 1200 Menschen neu in die Stadt. Genügend Essen und Unterkünfte zu stellen für die Schutzsuchenden ist dabei nur ein Aspekt – zentral ist auch die sprachliche und kulturelle Integration. Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer setzt daher vor allem auf einen schnellen Zugang zu Integrationskursen: In Stuttgart können Flüchtlinge mit einer hohen Bleibeperspektive auch dann schon solche Kurse besuchen, wenn ihr Asylantrag noch nicht genehmigt wurde – also Menschen aus Syrien, dem Iran, dem Irak oder Eritrea. „Sprache und Arbeit schaffen erst den Zugang in die Gesellschaft“, so Fezer.

Dabei hilft der Einsatz von ehrenamtlichen Helfern in den Unterkünften – auch darauf setzt die Stadt. „Die dauerhafte Integration der Flüchtlinge ist nur als gemeinsame Aufgabe der Stadtgesellschaft zu leisten“, sagt Fezer – und betont, dass die große Mehrheit der Menschen in Stuttgart bereit sei, Flüchtlinge zu integrieren.

Neuland: Fremde Kultur

Und dann ist da noch die Kultur. Auch nach drei Monaten im Land verstehen die drei Syrer noch immer vieles daran nicht. Dass ihre ehemalige Sprachlehrerin Jana Schlietter aus Karlsruhe sie zur Begrüßung mit einer Umarmung empfängt, zum Beispiel. „In Syrien gibt es das nur zwischen Männern“, sagt Sahel. Dass Frauen und Männer sich in der Öffentlichkeit so nahe kommen, wäre in Syrien nicht vorstellbar, erzählt er. „Aber wir respektieren diese deutsche Tradition“, sagt er – und muss lachen.

Verwunderlich finden die drei es, dass die Frauen hier nicht ständig über das Heiraten reden. Und dass die Männer nicht alles für sie bezahlen müssen. In Syrien, so sagen sie, müssen die Jungs sogar für die Bustickets ihrer Schulfreundinnen aufkommen. Selbst, wenn man täglich zusammen in die Schule fahre. Dass hier auch mal die weibliche Begleitung zahlt, finden sie irgendwie gut – und zugleich etwas unangenehm.

So recht verstanden haben sie auch noch nicht, warum man hier eine Tasse Tee oder ein Stück Kuchen nur einmal angeboten bekommt – nicht drei bis fünf Mal, so wie es in Syrien die Höflichkeit gebietet. „Wir haben das inzwischen gelernt“, sagt Hassan. „Aber manchmal vergessen wir das noch.“

Asylantrag: Offene Zukunft

Die Sprache, die kulturellen Unterschiede – all das schreckt die drei Syrer nicht ab. „Wir wussten, dass das Leben in Deutschland anders sein würde“, sagt Abdul.

Das Deutschlernen hilft ihnen, die Ungewissheit zu verdrängen – die Angst darüber, wie es weitergeht. „Wir sind jetzt seit drei Monaten da“, sagt Abdul. „Aber wenn wir fragen, wie es weitergeht, bekommen wir keine Antworten.“ Vielleicht wissen sie nach dem 16. Dezember mehr: Dann können sie endlich ihren Asylantrag stellen, hoffen sie. Auch wenn sie immer wieder gehört haben, dass die Termine nicht eingehalten werden. Erst vor ein paar Tagen hatte ein Bekannter aus der Turnhalle seinen Termin. Um sieben Uhr morgens. Er fuhr von Stuttgart nach Karlsruhe, wartete sechs Stunden vor der Landeserstaufnahmestelle in der Kälte. Dann wurde er dort wieder weggeschickt, zusammen mit vielen anderen. „Jeden Tag kommen Hunderte Menschen“, sagt Sahel. „Aber nur die Asylanträge der ersten fünfzig werden bearbeitet.“ Dass es ihnen genauso ergehen könnte: Das ist derzeit wohl die größte Sorge der drei jungen Männer.

Nach den Anschlägen in Paris ist daneben ihre Angst groß, dass so etwas auch in Deutschland passieren könnte. Und dass sich die Stimmung im Land dann gegen die Flüchtlinge richten könnte „und wir dann weggeschickt werden“, sagt Abdul. „Nach den Attentaten schauen viele Leute skeptischer als vorher auf Flüchtlinge – und ganz besonders auf uns Muslime.“ Sahel schüttelt den Kopf: „Dabei fliehen wir vor genau diesem Terror. Es ist absurd!“

Flüchtlinge im Südwesten: Fremde neue Welt?

Sie flüchten vor Krieg, Diktatur und Armut: Tausende Menschen kommen in diesen Tagen nach Deutschland. Drei davon sind Hassan, Abdul und Sahel aus Syrien. Anfang September sind sie in Stuttgart aus dem Zug gestiegen. Was ist seither geschehen?  Was empfinden Flüchtende  nach ihrer Ankunft in Deutschland – und wie kommen sie zurecht?  Unsere Autoren begleiten die  drei jungen Syrer bei ihren ersten Schritten im Land. Ein Langzeitprojekt. 

Teil 1: Fahrkarte ins Schlaraffenland? Flüchtlinge am Hauptbahnhof Stuttgart. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.fluechtlinge-in-stuttgart-fahrkarte-ins-schlaraffenland.9b9c2ed2-9ea8-401d-a4f5-f359dac704a0.html

Teil 2: Sieben Tage Deutschland: Besuch in der Landeserstaufnahmestelle Karlsruhe. Von Siri Warrlich und Hanna Spanhel http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.fluechtlinge-im-suedwesten-sieben-tage-deutschland.0bc32f7f-682e-4179-b633-1e0882f45f33.html

Teil 3: Vokabeln pauken gegen Langeweile: Warten auf das Asylverfahren. Von Melanie Maier, Jürgen Bock und Hanna Spanhel http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.fluechtlinge-im-land-vokabeln-pauken-gegen-langeweile.e44a8b6d-bdf9-4878-9a3c-c978bfa35724.html

Teil 4: Leben hinter Absperrgittern: Notquartier in der Turnhalle. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.fluechtlinge-in-stuttgart-leben-hinter-absperrgittern.7dfd95e4-1fa7-4947-ad7d-ecda2d9e8992.html