Sahel, Abdul und Hassan (von links) im Dezember vor der Außenstelle des Bundesamts in Karlsruhe. Es herrscht große Erleichterung, denn der Asylantrag ist gestellt. Doch bis jetzt ist nur Abdul anerkannt Foto: Siri Warrlich

Zigtausende Menschen kommen in diesen Monaten neu ins Land. Wie leben sie in der neuen Heimat – und auf welche Hürden stoßen sie im Asylverfahren? Unsere Autoren begleiten drei junge Syrer in einem Langzeitprojekt.

Stuttgart - Ene, mene, muh – und raus bist du. Den alten deutschen Abzählreim kennt Abdul sicher nicht. Und doch trifft er auf ihn zu. Zu seinem Glück im positiven Sinne, denn raus ist Abdul nicht aus Deutschland, sondern aus dem endlos scheinenden Asylverfahren. Der 27-jährige Syrer hat vor einigen Wochen seine Anerkennung bekommen, fast ein Jahr, nachdem er mit seinem Bruder Sahel und Cousin Hassan am Stuttgarter Hauptbahnhof aus einem Zug gestiegen ist – nach Aufenthalten in der Erstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe und einer Stuttgarter Turnhalle als Notquartier; nach zahllosen Stunden im Deutschunterricht, nach dem Umzug gemeinsam mit anderen Flüchtlingen in eine kleine Wohnung in Zuffenhausen, nach Anträgen, Formularen und viel, viel Wartezeit steht fest: Abdul darf bleiben, aber vorerst nur er.

Für Sahel und Hassan, die alle Schritte gleichzeitig mit Abdul durchlaufen haben, heißt es zittern, denn sie haben keine Post vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bekommen – zumindest noch nicht. Eine Bamf-Sprecherin teilt auf Anfrage unserer Zeitung mit, ihre Verfahren seien noch nicht entschieden. Für sie sei ein Termin zur persönlichen Anhörung in Karlsruhe am 23. August angesetzt.

Ungewissheit auch noch nach einem Jahr

„Wir verstehen das nicht“, sagt Sahel auf Deutsch. So, wie die drei jungen Männer so manches nicht verstehen, seit sie nach Deutschland gekommen sind – ein Land, das für sie gleichbedeutend nicht nur mit Frieden und Freiheit, sondern auch mit Ordnung und Regeln gewesen ist. Obwohl Syrer zu annähernd hundert Prozent eine Anerkennung bekommen, warten sie seit mittlerweile fast einem Jahr darauf, was mit ihnen geschieht. Seit sie in der völlig überlaufenen Bamf-Außenstelle in Karlsruhe im vergangenen Dezember ihren Asylantrag gestellt haben, sind acht Monate vergangen. Seither haben sie gesehen, wie andere Flüchtlinge um sie herum, die viel später gekommen sind, ihre Anerkennung erhalten haben. Sie haben erfahren, dass ihre Pässe auf dem Weg von der Bundespolizei zum Bamf verschwunden sind – und jetzt das.

„Abdul hat keine persönliche Anhörung gehabt“, sagt Sahel. Warum Cousin Hassan und er jetzt vorsprechen müssen, obwohl für sie eigentlich ein schriftliches Verfahren gelten sollte, können sie sich nicht erklären. Den Fragebogen hat Sahel inzwischen zwei Mal ausgefüllt und zurückgeschickt. Beim Bamf allerdings ist „kein Rücklauf vermerkt“, heißt es dort. Hassan wird anders als sein Cousin mittlerweile bei der Außenstelle in Reutlingen geführt. Und eine Einladung zur Anhörung am 23. August lag bei den beiden in Zuffenhausen bisher noch nicht im Briefkasten. Sie werden den Termin dennoch frei halten – zwischen Sprachkurs und Praktikum.

Eine halbe Million offene Asylverfahren

Die vielen Flüchtlinge, die vor allem im vergangenen Jahr nach Deutschland geströmt sind, überfordern die zuständigen Behörden offenbar noch immer. Dafür, dass eine kleine Gruppe wie die drei Syrer aus Stuttgart so unterschiedlich behandelt wird, könne es eine Vielzahl von Gründen geben, sagt eine Sprecherin des Bamf. Wie lange das jeweilige Verfahren daure, hänge an jeder Menge Kleinigkeiten. Letztendlich müsse man auch darauf verweisen, dass derzeit noch eine halbe Million Asylverfahren in Deutschland anhängig sei.

Allerdings sieht die Behörde Fortschritte. „Die in den vergangenen zwölf Monaten gestellten und beschiedenen Asylanträge haben eine durchschnittliche Bearbeitungsdauer von nur 3,8 Monaten“, sagt die Sprecherin. Man nähere sich dem politischen Ziel, neue Fälle in einem Vierteljahr abzuschließen, damit weiter an. Zu den Erfahrungen der drei jungen Männer in Stuttgart will das nicht so recht passen – und auch nicht zum Gesamtdurchschnitt. Nimmt man nämlich alle Asylverfahren, nicht nur die neueren, ist die Verfahrensdauer zuletzt wieder gestiegen – von gut fünf auf 6,6 Monate. „Das Bundesamt hat seine Kapazitäten ausgebaut und bearbeitet deutlich mehr Verfahren als im Vorjahr. Statistisch macht sich dabei aber bemerkbar, dass es viele ältere und zum Teil komplexe Verfahren sind, die nun endlich zum Abschluss gebracht werden“, erläutert die Sprecherin. Im Klartext: Viele alte Verfahren, die sich in die Länge gezogen haben, können von den zusätzlichen Mitarbeitern nun abgearbeitet werden, verschlechtern aber den Schnitt.

Einzelfallprüfung für alle

Eine Rolle bei der Dauer spielt auch die Entscheidung der Bundesregierung, das vereinfachte Verfahren für Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und dem Irak wieder abzuschaffen. Sie konnten bis zum Jahreswechsel zumeist einen schriftlichen Prozess durchlaufen. Aus Sicherheitsgründen werden nun wieder alle Flüchtlinge, die ihren Asylantrag stellen, einer Einzelfallprüfung mit persönlicher Anhörung unterzogen.

Die drei Syrer fallen eigentlich noch unter die alte Regelung. Warum einer auf dem schriftlichen Weg anerkannt wird, die anderen beiden aber nicht, bleibt ein Rätsel. Immerhin sind zwei der drei fehlenden Pässe mittlerweile wieder beim Bamf aufgetaucht. Dass der zwischenzeitliche Verlust der Dokumente etwas mit der langen Verfahrensdauer zu tun haben könnte, streitet man dort allerdings ab.

Falls die Einladung sie noch erreicht, werden Sahel und Hassan also in ein paar Tagen nach Karlsruhe fahren, wieder einmal. Die Strecke und die Busverbindungen zur Bamf-Außenstelle in der Durlacher Allee kennen sie inzwischen längst. Was sie dort erwartet, wissen die jungen Männer nicht. Doch sie werden auch diesen Verfahrensschritt hinter sich bringen.

Die Heimatstadt Aleppo ist zerstört

Der Weg zurück wäre ohnehin keine Alternative. Das bekommen sie jeden Tag auf furchtbare Weise vorgeführt. Die Bilder aus Syrien flimmern auch in Deutschland übers Internet oder Fernsehen in die Wohnzimmer. Aleppo, ihre Heimatstadt, liegt nach wochenlanger Belagerung in Schutt und Asche. „Unserer Familie dort geht es schlecht. Die Kämpfe toben ganz in der Nähe unseres Hauses“, sagt Sahel und wird sehr still. Da scheint im Vergleich das monatelange Ringen mit den deutschen Behörden, mit der Sprache und der Frage nach dem künftigen Berufsleben ein unendlich kleines Problem zu sein.

Dennoch wären auch Sahel und Hassan froh, wenn es ihnen bald so ginge wie Abdul. Getreu dem alten deutschen Abzählreim. Ene, mene, muh – und raus bist du. Raus aus dem quälend langen Asylverfahren und drin in einer Zukunft, die auf sicheren Beinen stehen kann.