Alkohol verschafft eine rasche, aber trügerische Erleichterung. Foto: Kathrin Wesely

Die Pandemie wirkt sich auf das Suchtverhalten der Menschen aus. Die Experten der Suchtberatung des Caritasverbandes in Stuttgart-Mitte zeigen Auswege und Alternativen auf. Ihr Suchttherapeut Rainer Lang rät beispielsweise zu Entspannungstechniken.

S-Mitte - Existenzielle Ängste, Zukunftssorgen, Einsamkeit oder mangelnde Rückzugsmöglichkeiten in beengten Wohnungen: Die Pandemie belastet viele Menschen psychisch. Rauschmittel versprechen kurzzeitige Entlastung. Über die Corona-Zeit sprachen wir mit Rainer Lang von der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Angehörige der Caritas.

Herr Lang, wie stark wird Ihr Beratungsangebot seit Corona nachgefragt?

Schon sehr. Verschiebungen sind bemerkbar: ProKids, ein Angebot der Caritas für sucht- und psychisch belastete Familien wurde verstärkt nachgefragt. Zudem meldeten sich einige Konsumenten von Opiaten, die sich ihren Stoff sonst auf dem Schwarzmarkt besorgt haben. Durch Jobverlust konnten sie sich die Drogen nicht mehr leisten und gleichzeitig waren die üblichen Beschaffungsquellen durch verstärkte Präsenz der Polizei versiegt. Da kamen zuvor suchtmedizinisch unbehandelte Menschen zusätzlich in die Substitutionsbehandlung. Die meisten haben dabei unser Angebot zu schätzen gelernt und sind geblieben.

Man hätte jetzt eher erwartet, dass in der aktuellen Situation der Alkoholmissbrauch zunimmt.

Es gibt Untersuchungen, die stark darauf hindeuten, dass der Alkoholkonsum während Corona zugenommen hat. Aber die negativen Effekte werden sich in der Beratung erst mit einiger zeitlicher Verzögerung niederschlagen. Denn die Betroffenen müssen ja erst einmal selbst wahrnehmen, dass sie ein Problem haben und Unterstützung benötigen, um daran etwas zu verändern. Und auch die Angehörigen tolerieren das Suchtverhalten zunächst eine ganze Weile, bis sie etwas sagen. Mit Sicherheit aber hat die Krise das Risiko, eine Abhängigkeit von Alkohol zu entwickeln, begünstigt.

Welche Umstände fördern derzeit das Suchtverhalten?

Die Krise ist eine andauernde Stresssituation, und Substanzen wie Alkohol regulieren Stress und verschaffen schnell ein angenehmes Gefühl. Der Konsum von Drogen verfestigt sich als effiziente Strategie, mit der stressigen Situationen begegnet werden kann. Andere Handlungsmuster werden dabei regelrecht verlernt!

Wenn jemand merkt: „Ooops, ich trinke vielleicht ein bisschen zu viel.“ Was raten Sie dem?

Darüber reden. Ich rate zu Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung nach Jacobson oder zu Feldenkrais, Tai Chi, Chi Gong, zum Rausgehen, zu Spaziergängen, zum Musik hören. Ich rate, alte Hobbys zu reaktivieren und sich mit Dingen abzulenken, die einem Spaß machen.

Was ist zu tun in der akuten Situation, bei heftigem Verlangen?

Man muss wissen: Das Craving, also der Suchtdruck, dauert in der Regel nur wenige Minuten, dann vergeht er. Es gilt, diese paar Minuten auszuhalten, zu warten, dass sie vorübergehen. Man kann sich währenddessen vorstellen, im Meer zu schwimmen, sich von der Welle hoch tragen zu lassen und wieder zu sinken. Eine weitere Möglichkeit wäre vielleicht, stattdessen tatsächlich in eine Chilischote zu beißen, um den Reiz zu überlagern. Das Verlangen verschwindet, so wie auch andere Gemütszustände kommen und gehen. Mit der Zeit wird man vielleicht feststellen, dass es ganz persönliche Auslöser gibt für das Craving. Das kann eine Bier-Werbung vor der Sportsendung sein, die dem Gehirn sagt: Jetzt kommt gleich das Bier. Oder aber ein bestimmter Song, der an einen angenehmen Moment erinnert, in dem auch Alkohol im Spiel war.

Was wird bleiben? Hinterlässt Corona mehr als kurzfristige Effekte?

Vielleicht gibt es nach der Krise tatsächlich mehr Menschen mit Alkoholproblemen. Vielleicht gibt es aber auch ein größeres Problembewusstsein. Denn der Umgang mit Alkohol ist hier sehr lax, verglichen mit anderen Ländern. Es ist gar nicht erklärbar, dass Alkohol in Deutschland so billig ist und der Zugang dazu kaum reguliert. Man sollte ihn höher besteuern und mit den Einnahmen die Suchthilfe finanzieren.