„Der Feinstaubalarm war eine Methode, um uns alle aufzurütteln“, sagt OB Kuhn. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

VVS-Tarifreform, Feinstaubalarm, drohende Fahrverbote – zu alledem hat Fritz Kuhn eine klare Botschaft. „Stuttgart hat nicht nur geredet, sondern das Problem angepackt und eine Lösung gefunden“, sagt der Oberbürgermeister im Interview mit unserer Zeitung.

Stuttgart - Der Oberbürgermeister will Fahrverbote in Stuttgart vermeiden. Doch Fritz Kuhn weiß auch, „dass das nur geht, wenn wir jetzt die Zeit nutzen, um bei den Stickoxiden besser zu werden“. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sei schließlich kein Diskussionsbeitrag, sondern bindend.

Herr Kuhn, an diesem Sonntag endet die Feinstaubalarmsaison. Diesmal gab’s weniger Überschreitungstage als beim letzten Mal – 17 statt 35. Werden Sie das Instrumentarium im Oktober noch mal in Kraft setzen?
Ja, in diesem Jahr gab es bislang nur 17 Überschreitungstage. Ich bin damit sehr zufrieden, denn zum ersten Mal haben wir 2018 die realistische Chance, beim Feinstaub alle Grenzwerte einzuhalten. Das zeigt, die verschiedenen Maßnahmen – vom Jobticket über die Stadtbegrünung bis zur Straßenreinigung – haben’s gebracht. Darüber darf man sich jetzt auch mal freuen.
Ist der Feinstaub besiegt?
Nein, das wäre zu früh. Wir sehen jetzt aber, wie’s geht. Bei einer extrem schlechten Wetterlage kann es 2019 wieder zu einer Überschreitung kommen. Klar ist: Wir dürfen keinesfalls nachlassen, sonst kehrt das Problem zurück. Ob’s dann wieder eine Feinstaubalarmsaison geben wird, entscheiden wir im Sommer. Aber wir werden jetzt überall in Deutschland sagen: Das Thema Feinstaub am Neckartor könnt ihr euch langsam abschminken.
Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie mit dem Feinstaubalarm dem Image der Stadt geschadet haben. Aus China gab es die Anfrage, ob Touristen hier ohne Mundschutz unterwegs sein können.
Der Feinstaub hat das Image beschädigt, nicht der Alarm. Der Feinstaubalarm war eine Methode, um uns alle aufzurütteln. Als Mobilisierungsmittel hat er sich bewährt. Lange Zeit wurde das Thema unter den Teppich gekehrt. Aber Probleme löst man nur, wenn man klar, offen und ehrlich damit umgeht. Auch wenn’s manchmal wehtut.
Sie planen eine Imagekampagne?
Davon können Sie ausgehen. Wenn sich das alles so bewahrheitet, wie es jetzt aussieht, werden wir eine Imagekampagne machen, und zwar nach dem Muster: Stuttgart hat nicht nur geredet, sondern das Problem angepackt und eine Lösung gefunden.
Kommen Sie da nicht in Schwierigkeiten, wenn Sie im Sommer behaupten, der Feinstaub ist im Griff, und im Januar werden Fahrverbote für Dieselfahrzeuge verkündet?
Das eine ist der Feinstaub, das andere sind die Stickoxide. Auch bei den Stickoxiden sind wir besser geworden. Gegenwärtig sind wir die Stadt, die die Stickoxidwerte am stärksten senken kann, obwohl der Jahresmittelwert immer noch überschritten wird.
Trotzdem drohen Verbote.
Das Leipziger Bundesverwaltungsgericht hat in letzter Instanz Folgendes gesagt: Wenn andere Maßnahmen kurzfristig nicht helfen, dann kommen Fahrverbote, unabhängig davon, was der Bundesgesetzgeber macht, weil hier das EU-Recht maßgeblich ist. Der Gesundheitsschutz muss beachtet werden. Auf der anderen Seite hat das Gericht betont, dass man das Prinzip der Verhältnismäßigkeit anwenden muss, also die älteren Diesel zuerst verbieten und die Euro-5-Diesel nicht vor dem 1. September 2019. Mündlich hat das Gericht hinzugefügt: Wenn die Grenzwerte bis dahin deutlich sinken, kann das auch später in Kraft treten. Das heißt: Wir haben jetzt eineinhalb Jahre Zeit, um die Werte signifikant zu senken. Wenn uns das nicht gelingt, wird es Verbote geben. Das ist höchstrichterlich so festgelegt. Jetzt kommt aber ein neues Problem hinzu: Der ADAC hat dokumentiert, dass Euro-4-Diesel auf der Straße im Durchschnitt bessere Werte erzielen als die neueren Euro-5-Fahrzeuge. Das hat mit der Betrugssoftware zu tun. Die Landesregierung wird dies im Luftreinhalteplan berücksichtigen müssen. Sie wird ja nicht Euro 4 pauschal verbieten und die schlechteren Euro 5 noch fahren lassen können.
Die Verunsicherung der Dieselfahrer wird dadurch nicht kleiner. Auf was kann man sich noch verlassen?
Die Automobilindustrie muss jetzt mal in Deutschland ihren Beitrag leisten. Stichwort Nachrüstung: Wer manipuliert, muss zahlen, so einfach ist es. Die Bürger hören im Fernsehen, dass VW in den USA einen zweistelligen Milliardenbetrag bezahlt, und in Deutschland passiert nichts. Punkt zwei: Die Bundesregierung darf die Städte nicht länger im Stich lassen. Von der Milliarde Euro, die im Sommer versprochen wurde, ist noch kein Geld geflossen. Außerdem erfordern die notwendigen Investitionen in den ÖPNV viel größere Summen. Ich sage es ganz deutlich: Automobilindustrie und Bundesregierung müssen sich endlich engagieren, damit wir eine Chance haben, in den eineinhalb Jahren die Grenzwerte einzuhalten. Ich spreche hier für viele OB-Kollegen.
Schließen Sie Fahrverbote für Euro-4-Diesel zum 1. Januar 2019 aus?
Ich kann gar nichts ausschließen; für den Luftreinhalteplan ist die Landesregierung zuständig. Ich sage nur: Ich will für die Stadt Stuttgart Verbote vermeiden. Ich weiß aber, dass das nur geht, wenn wir jetzt die Zeit nutzen, um bei den Stickoxiden besser zu werden. Alle müssen sich jetzt anstrengen. Die VVS-Tarifreform ist ein Beitrag, dass mehr Pendler auf den ÖPNV umsteigen. Ich erwarte aber auch, dass die Autohersteller jetzt endlich mal einen Elektrobus anbieten, der im Winter nicht mit Diesel beheizt wird. Und dass sich die Taxiverbände in Stuttgart endlich bewegen. Elektrotaxis können mit bis zu 17 000 Euro pro Fahrzeug staatlich gefördert werden.
Gibt es Gespräche mit der Automobilindustrie über konkrete Verbesserungen?
Ja. Und in den Gesprächen wird auch nicht nur gemauert. Ich finde aber, diejenigen, die den Betrug zu verantworten haben, VW und alle, die sonst noch mitgemacht haben, sind jetzt an der Reihe. Man könnte ja meinen, das Land oder die Städte wären die Bösen. Eine völlig absurde Situation. Verkehrsminister Hermann oder ich haben jedenfalls keine Dieselmotoren oder Software manipuliert. So viel ist gewiss.
Eine Studie im Auftrag von Daimler und Bosch besagt, dass Fahrverbote nicht dazu führen würden, dass die Stickoxidgrenzwerte eingehalten werden. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Das Land muss in seinem Luftreinhalteplan berücksichtigen, ob die Maßnahmen, die man beschließt, auch umsetzbar sind und tatsächlich etwas bringen. Wenn das nicht der Fall ist, sind wir wieder bei der Blauen Plakette und damit beim Bund.
Die Autoindustrie hat sich positiv zur Blauen Plakette geäußert, die Bundesregierung lehnt sie ab. Ist das Thema abgehakt?
Nein, die Bundesregierung wird das Thema nicht loskriegen. Auch die Gerichte in Leipzig und Stuttgart haben ja gesagt, die Blaue Plakette wäre die beste Lösung. In Berlin gibt’s aber ein paar Ideologen, die sagen, die Blaue Plakette sei auch ein Verbot. Das stimmt, aber es ist ein Verbot, das man zeitlich gestalten und kontrollieren kann.
Die Stickoxidwerte in Büros sind oft deutlich höher als auf der Straße. Darüber wird nicht diskutiert. Ist das für Sie stimmig?
Wenn’s in der EU Grenzwerte gibt, dann muss man die einhalten. Und wenn es Widersprüche gibt, muss man die klären. Aber ich kann nicht aus den Widersprüchen ableiten, dass das Gesetz nicht gilt. Manche behandeln das Leipziger Urteil ja wie einen Diskussionsbeitrag. Das ist es nicht. Es geht hier um die Frage der Herrschaft des Rechts in der Bundesrepublik Deutschland. Gott sei Dank sind wir ein Rechtsstaat.
Welchen Effekt versprechen Sie sich von der Nahverkehrsabgabe, die Sie gerne einführen würden?
Nahverkehrsabgabe heißt, anders zu denken, nämlich: Wer den Stadtraum mit einem Auto betritt, braucht ein gültiges ÖPNV-Ticket an der Windschutzscheibe. Wer zahlt, bekommt also auch etwas. Ich setze darauf, dass viele Schwaben schwäbisch genug sind, um zu sagen, wenn ich schon zahle, fahre ich gleich mit den Öffentlichen. Wer solche Instrumente ablehnt, muss sagen, wie er den ÖPNV stattdessen nachhaltig finanziert.
Wie kann man den Nahverkehr, der an der Kapazitätsgrenze arbeitet, ausbauen?
Es gibt Verschiedenes, was wir zum Teil jetzt schon anpacken. Der Ausbau der U 12 ist dafür ein Beispiel oder die Bahnsteigverlängerung an der U 1. Damit kann man relativ schnell Kapazitäten erweitern. Das Zweite ist die Verbesserung des Bussystems. Das geht aber nur, wenn die Busse nicht im Stau stehen, das heißt, wir brauchen Vorfahrt für Busse. Wie bei der geplanten Linie X1 von Bad Cannstatt in die Innenstadt, die im Fünf-Minuten-Takt die Innenstadt umkreist. Und wir bekommen einen ertüchtigten Regionalbahnhof in Vaihingen und hoffentlich auch in Feuerbach. Wir haben das ganze Stadtgebiet und die Region gescannt nach der Frage: Wie kann man den ÖPNV ausbauen? Kurzfristig geht das mit Taktverdichtungen. Auch bei der S-Bahn, für die der Verband Region Stuttgart zuständig ist, ist Druck da. Natürlich ist die Frage, wie wir mehr Verkehr auf die Stammstrecke kriegen. Klar ist auch: Wenn Stuttgart 21 fertig ist, wird manches besser.
Wann wird die Tarifreform welche Effekte auf Nutzerzahlen und Stickoxide haben?
Klar ist, wenn die Tarifreform – sagen wir: zum 1. April 2019 – kommt, dann hat das einen Effekt auf den ÖPNV, und das ist gut gegen Stickoxide. Am Stuttgarter Kesselrand haben wir, was Autos und öffentliche Verkehrsmittel angeht, ein Verhältnis von 51 Prozent für den ÖPNV und 49 Prozent fürs Auto. An der Stadtgrenze sind’s noch 74 Prozent für das Auto und der Rest ÖPNV. Das zeigt glasklar: Wenn wir im Stuttgarter Kessel eine bessere Luft kriegen wollen, müssen wir schauen, dass mehr Leute aus der Region umsteigen können. Durch Park-and-ride, durch die Metropolexpresszüge des Landes.
Die CDU ist der Auffassung, dass durch bessere Umgehungsstraßen der Verkehr in Stuttgart reduziert werden könnte, Stichwort: Nordostring und Filderauffahrt.
Ich glaube da nicht dran. Die Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte hat doch gezeigt: Mit neuen Umgehungsstraßen und Tunneln zieht man meist mehr Verkehr an. Und zweitens sind das Mondmodelle. Die Nordostumfahrung und der Fildertunnel wären frühestens in 40 Jahren fertig. Bis dahin geht Mobilität ganz anders. Das sagen übrigens auch die Denkfabriken der Autoindustrie. Das sind doch keine Lösungen für das Stickoxid- und Stauproblem in den nächsten Jahren.
Ist es Ihr Ziel, Stuttgart zu einem Modellstandort für Mobilität zu machen?
Ja. Stuttgart ist eine Autostadt, und das ist ja auch der Grund für unseren Wohlstand. Doch jetzt sehen wir, dass das so nicht weitergeht. Deshalb brauchen wir eine große Transformation. Wir müssen zeigen, dass unsere Technologie-Region mit ihrer innovativen Power diese Situation bewältigen kann. Das kriegen wir nicht hin, indem wir das Auto verfluchen, sondern nur durch neue Technologien, Zusammenarbeit mit der Autoindustrie, durch Elektromobilität, Carsharing, den Ausbau Stuttgarts zur Fahrradstadt und vieles mehr. Wir haben hier so viele gut ausgebildete Menschen in der Forschung, in der Wissenschaft und in den Betrieben, dass wir das bewältigen können. Und ich stelle fest: In Stuttgart ist etwas ins Rollen gekommen.