Arnica Esterl braucht kein Buch, wenn sie ein Märchen erzählen will. Sie kann sie auswendig. Foto: Max Kovalenko

Der Stuttgarter Märchenkreis feiert sein Silbernes Jubiläum. Mitbegründerin Arnica Esterl hat 75 Märchen in ihrem Repertoire. Jahrelang erzählte sie diese deutschlandweit in Kindergärten und Schulen. Nun erzählt sie im Altersheim ihre Märchen.

Der Stuttgarter Märchenkreis feiert sein Silbernes Jubiläum. Mitbegründerin Arnica Esterl hat 75 Märchen in ihrem Repertoire. Jahrelang erzählte sie diese deutschlandweit in Kindergärten und Schulen. Nun erzählt sie im Altersheim ihre Märchen.
Frau Esterl, welches ist Ihr Lieblingsmärchen?
Habe ich nicht. Mein Lieblingsmärchen ist eigentlich immer das, an dem ich gerade arbeite. Aber ich muss gestehen, das Märchen „Der Froschkönig“ ist etwas Besonderes für mich, weil es das erste war, dass ich gelernt habe. Ich bin darin am tiefsten eingedrungen. Ich sehe den Frosch hüpfen.
Wie sind Sie damals auf die Idee gekommen, den Froschkönig auswendig zu lernen?
Im Alter von 37 Jahren war ich eine Zeit lang schwer erkrankt und ans Bett gefesselt. Ich fragte mich: Was mache ich jetzt? Meine Mutter war in Holland jahrelang Märchenerzählerin, deshalb kam ich auf die Idee, auch ein Märchen zu lernen. Also habe ich angefangen mit dem ersten Satz des ersten Märchens der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Das war „Der Froschkönig“. Ich habe es wie ein Gedicht gelernt. Ich habe eine Zeile gelesen, dann die Augen zugemacht und wiederholt. Dann die zweite Zeile und so weiter. Bis ich durch war.
Dauert es lange, bis Sie ein Märchen auswendig erzählen können?
Ich habe immer drei Monate gebraucht, um es nicht nur auswendig, sondern inwendig zu lernen. Weil ich bei diesem ewigen Wiederholen erlebt habe, dass die Märchen plötzlich beweglich wurden. Die Figuren bekamen ein Leben. Das hat mich so fasziniert, dass ich die Märchen auch heute noch immer wiederhole, um zu schauen, was die Figuren darin machen.
Wie wurden Sie zur Märchenerzählerin?
Der Kindergarten meines jüngsten Sohnes fragte an, ob ich nicht am Elternabend teilnehmen möchte. Ich sagte, dass ich kommen werde, wenn ich am Schluss das Märchen erzählen darf. Denn sonst wäre ich daran erstickt. Nachdem ich das gemacht hatte, kam die nächste Anfrage und so weiter. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht mit einem Märchen durchs Leben komme. Also habe ich weiter gelernt. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob man die Zuhörer beim Erzählen anschauen kann.
Und schließlich haben Sie den Stuttgarter Märchenkreis gegründet?
Zuerst wurde ich Mitglied in der Europäischen Märchengesellschaft. Ich bin mehrmals im Jahr zu den Kongressen gefahren, die aber nie in Süddeutschland statt gefunden haben. Irgendwann war ich es leid, so weit zu fahren. Deshalb schrieb ich gemeinsam mit Sigrid Früh und Christoph Bloss – die beide ebenfalls Mitglied in der Europäischen Märchengesellschaft waren – alle Märchenerzähler aus Stuttgart an und wir gründeten den Verein.
Mit welchem Ziel?
Märchen zu erzählen für alle Altersstufen. Wir haben Seminare organisiert. Wir haben auch jetzt nicht mehr als 80 Mitglieder, aber es lief gut. Viele Kindergärten und Schulen haben unser Angebot gerne angenommen. Ich bin durch ganz Deutschland gereist und habe Märchen erzählt. Auch in Altersheimen, wie ich es heute noch bei uns im Haus mache. Erwachsene hören Märchen genau so gerne wie Kinder.
Sind Märchen heute noch aktuell?
Sie sind seit 2000 Jahren aktuell. Deshalb muss an ihnen etwas dran sein. Die Märchen erzählen vom Wesen des Menschen. Was tut der Mensch? Er wird geboren, er lebt, er liebt, er stirbt. Die tief greifenden Erfahrungen werden von Menschen seit Urzeiten erzählt. Ob das die Schamanen waren, die es weiter getragen haben, oder ob man die Bibel nimmt. Da stehen echte Märchen drin. Die werden aber nicht als solche verkauft. Weil man denkt, Märchen wären nicht wahr.
Sind Märchen Ihrer Meinung nach wahr?
Wer sagt, dass sie nicht wahr sind? Sie sind wahr, sie bilden das Leben ab. Früher hat man die Geschichten erzählt, wie sie sind. Man hat die Geschichten noch bildhaft erzählt, so wie man das Leben und die Geschehnisse erlebt hat. Märchen sind im Übrigen auch nicht moralisch, sie sind lebendig. Aber das glaubt mir niemand. Das Geschehen in den Märchen hängt mit unserem Leben eng zusammen, liegt aber eine Schicht tiefer. Es gibt nichts, was es in Märchen nicht gibt. Von wilder Ehe bis zum Totschlag und so weiter. Sie erzählen aber, was hinter dem Vorhang der Welt sichtbar wird.
Den bösen Schwestern bei Aschenputtel werden von Tauben die Augen ausgepickt. Ist so etwas für Kinder nicht zu gruselig?
Kinder fürchten sich vor Märchen nicht, aber die Erwachsenen machen ein furchtbares Theater darum. Die Rollen zwischen Gut und Böse sind klar verteilt. Es gibt nur wenige Märchen, in denen jemand den Charakter ändert. Märchenfiguren personifizieren etwas, sie sind keine komplexen Persönlichkeiten. Sie machen Mut. Es gibt keine zwei Kinder, die ein Märchen gleich auffassen. Es ist schrecklich für Kinder, wenn sie das nie zu hören kriegen. Denn die normale Kinderliteratur ist entweder süßlich oder Fantasy.
Verstehen die Kinder die altmodische Sprache oder fragen sie nach?
Bei mir haben sie nie gefragt. Sie haben das akzeptiert. Sie hören furchtbar gerne zu. Wenn sie das wie ein Tortenstück genießen dürfen, das ist doch herrlich.
Kennen die Kinder heutzutage überhaupt noch Märchen?
Die immer gleichen Märchen kennen sie. Es gibt einen Kanon von fünf Märchen, wie Dornröschen, Frau Holle und Rumpelstilzchen, weil die Lehrer auch nicht mehr kennen. Und die werden dann höchstens mal durchgenommen. Dabei haben die Grimms 200 Märchen gesammelt.
Wie viele davon können Sie auswendig?
Ich habe alle Grimm-Märchen gelesen. Herrlich. Die sind so spannend und so vielseitig. 75 Märchen habe ich auswendig gelernt, aber auf Anhieb kann ich vielleicht noch 15. Bei den anderen müsste ich noch einmal nachschauen, vor allem weil ich nicht mehr so oft Märchen erzähle und deshalb aus der Übung bin.