Cristina Ferdi macht ausnahmsweise Pause, ansonsten singt sie im Vesperkirchenchorund mittlerweile auch als Solistin. Foto: Max Kovalenko

Die Vesperkirche bietet nicht nur Speisen für den Leib, sondern auch Nahrung für den Geist. So haben sich einige Obdachlose zum Vesperkirchenchor zusammengefunden. Darunter auch Cristina Ferdi. Ihr hat das Singen neues Selbstvertrauen gegeben.

Die Vesperkirche bietet nicht nur Speisen für den Leib, sondern auch Nahrung für den Geist. So haben sich einige Obdachlose zum Vesperkirchenchor zusammengefunden. Darunter auch Cristina Ferdi. Ihr hat das Singen neues Selbstvertrauen gegeben.

Stuttgart - Als Cristina Ferdi auf die Bühne tritt, wird es still in der Stuttgarter Leonhardskirche. Eine gespannte Stille, denn keiner weiß, was gleich passiert. Unter dem Applaus ihrer Freunde – die meisten essen in den Winterwochen regelmäßig in der Vesperkirche und singen im Vesperkirchenchor „rahmenlos und frei“ – ist Ferdi nach vorne auf die Bühne gelaufen. Eine große, stämmige Frau, die über 50 Jahre alt ist, aber ihr genaues Alter nicht nennen mag, einen selbst gebastelten Ohrring trägt und einen auffälligen Hut. Selbstbewusst erklärt Ferdi, sie werde den Gefangenenchor aus „Nabucco“ von Guiseppe Verdi singen.

In die Stille hinein singt Christina Ferdi die ersten Töne. Buchstäblich mit offenen Mündern sitzen die Anwesenden der Benefizveranstaltung „Tischlein deck dich“ da und lassen sich von der Obdachlosen verzaubern. Cristina Ferdi singt ohne Mikrofon oder Verstärker, mit ihrer Stimme füllte sie dennoch die ganze Kirche aus. Man spürt, sie ist ganz in ihrem Element. Nach dem Auftritt gibt es tosenden Beifall für Ferdi, von allen: Wohlhabenden Stuttgartern, die an diesem Abend gekommen sind, um zu spenden und Gutes zu tun, von den Mitarbeitern der Vesperkirche und von bedürftigen Bürgern.

Cristina Ferdi selbst strahlt vor Freude. Sie singt für ihr Leben gern und seit kurzem auch vor Publikum. Vor vier Jahren war es, als Diakoniepfarrerin Karin Ott ein Experiment wagte und den Vesperkirchenchor „rahmenlos und frei“ ins Leben rief. Von Anfang an war auch Ferdi dabei. Mehrmals im Jahr tritt der Chor auf, unter der Leitung der erfahrenen Sängers Patrick Bopp, der unter dem Künstlernamen Memphis Mitglied der A-Cappella-Formation Füenf ist. Auch Comedian Roland Baisch oder Koch Vincent Klink unterstützen den Chor. Die Vesperkirchen-Sänger haben ein eigenes Programm erstellt und mittlerweile gar den Bürgerpreis in der Kategorie Kultur der Bürgerstiftung Stuttgart gewonnen.

Ferdi ist mit Feuereifer bei der Sache. „Der Chor ist mein Leben, meine Familie, das Singen gibt mir sehr viel“, sagt sie und freut sich auf jeden Auftritt. „Ich werde viel selbstbewusster. Am Anfang habe ich mich gar nicht getraut, vor Publikum zu singen, jetzt ist das ganz anders.“ Entdeckt wurde das Talent von Cristina Ferdi erst im Vesperkirchenchor, gesungen hat sie aber schon immer: „Ich habe keine Gesangsausbildung, mein bestes Training war es, während dem Putzen zu singen. Immer dann fiel mir die Arbeit nicht so schwer“, erzählt Ferdi.

Putzen, das musste sie schon in jungen Jahren. „Ich wurde unehelich geboren, das war das Pech meines Lebens. Bis heute kenne ich meinen Vater nicht. Mich wollte keiner haben, weil ich eine große Familienschande war, deswegen wurde ich in ein katholisches Schwesternheim gebracht.“ In einem Heim in der italienischen Großstadt Neapel verbrachte Ferdi ihre ersten Lebensjahre, ihre Mutter versuchte sich im Stuttgarter Osten eine Existenz aufzubauen und holte sie im Alter von neun Jahren zu sich. Doch die Mutter erkrankte nach wenigen Jahren schwer und Cristina Ferdi musste sich im Alter von vierzehn Jahren um ihre drei jüngeren Geschwister und den Haushalt kümmern.

Vor der Schule begann sie zu arbeiten, um etwas zusätzliches Geld zu verdienen, das die Familie bitter nötig hatte. „In der Schule war ich schlecht und habe auch keinen Abschluss machen können. Zu Hause war es zu chaotisch und ich hatte keine Zeit zum Lernen.“ Mit siebzehn zog sie deswegen aus und versuchte sich mit kleineren Jobs über Wasser zu halten. Mit achtzehn Jahren ergatterte sie eine Ausbildungsstelle zur Bürokauffrau und arbeitete in der Folge achtzehn Jahre lang in Bad Cannstatt. „Das waren schöne Jahre und alles lief wunderbar, doch dann zog die Firma nach Nürnberg um und ich wollte nicht weg“, sagt Ferdi.

Wenig später beging ihre Mutter Selbstmord und wirbelte Cristina Ferdis Leben durcheinander. Die gebürtige Italienerin wurde selbst schwer krank. „Ich hatte psychische Zwänge, denn ich hatte nur meine Mutter und wollte nicht ohne sie leben.“ Viele Jahre verbrachte Ferdi in Therapie und fand keine feste Arbeitsstelle. „Wegen meiner Ängste habe ich es nicht mehr geschafft eine Wohnung zu halten. Ich will selbstständig sein und nicht im betreuten Wohnen leben, deswegen bin ich auf der Straße gelandet“, sagt die Sozialhilfeempfängerin.

Nach vier Jahren der Obdachlosigkeit hörte sie erstmals von der Stuttgarter Vesperkirche. Sie kommt seitdem mehrmals in der Woche vorbei. „Das tut mir gut! Hier habe ich viele Freunde gewonnen und bekomme seelische Unterstützung und ärztliche Hilfe“, sagt Ferdi. Neben ihren Einsätzen im Vesperkirchenchor tritt sie auch im Theater der Straßenzeitung Trott-war regelmäßig auf und bastelt Schmuck, den sie auf den Straßen Stuttgarts verkauft. „Ich bin endlich eine Künstlerin und lebe wieder richtig, seit ich beim Singen entdeckt worden bin“, freut sich die Obdachlose, die im Sommer komplett im Freien lebt und im Winter bei Freunden schläft. So ist Cristina Ferdi gerade eigentlich rundum glücklich. Für ihre Zukunft wünscht sie sich nur eines: „Ein bezahlbares Atelier, wo ich eine Künstlerin sein und mich voll ausleben kann.“

Zur Unterstützung der Stuttgarter Vesperkirche gibt es ein Spendenkonto bei der BW Bank. Kontonummer: 2 464 833, Bankleitzahl: 600 501 01, IBAN DE05 6005 01010002 4648 33.