Im Lauf der Jahrzehnte ist Heumaden zwar stark gewachsen, aber eben nicht zusammengewachsen. Foto: Stadtmessungsamt/Plavec

Ab Mitte der 1950er Jahre wurde vieles anders in Heumaden. Ins Dorf, das ehemals im großen Stil von der Landwirtschaft lebte, zogen ab der Zeit des Wirtschaftswunders massenhaft Leute in neue, große Häuser. Ein Wandel, der manchen zu schnell vonstattenging.

Heumaden - Der Name Heumaden kommt von Heu und Mahd, und das Wappen des heutigen Stuttgarter Stadtteils zeigt Heugabel und Rechen in gekreuzter Form. Das Symbol kommt nicht von ungefähr. Früher, da lebten hier viele von der Landwirtschaft. Auch die Eltern von Erich Wochner und Brunhilde Hald. Beide sind Jahrgang 1937, beide gingen sie in dieselbe Klasse in der örtlichen Volksschule, und beide haben ihr ganzes Leben in Heumadenverbracht. Sie wuchs an der Bockelstraße auf, vis-à-vis vom alten Schulhaus, er im Schieferhaus von 1685 neben der Rose. Stolz zeigt Erich Wochner das Heimatbuch von 1970. Ein Bild zeigt seine Mutter Anna Wochner, „die damals älteste Marktfrau von Stuttgart“, ein anderes zeigt Verwandte bei der Ernte in der Schwende. So war das Leben damals.

Es war die Zeit, in der plötzlich auch Frauen die Hosen anhatten

Die beiden erzählen davon, als wäre es gestern gewesen. 1955 war eine wilde Zeit. „Als ich 18 war, hatten wir Motorräder und Jeanshosen. Niethosen hat man damals gesagt. Die Älteren konnten sich das nicht vorstellen, dass man so rumläuft“, erzählt Erich Wochner. Seine Schulkameradin gehörte zu den ersten Frauen, die auch mal Hosen trugen. „Wir haben alles umgekrempelt“, sagt Brunhilde Hald. Damals waren sie Vorreiter, wuchsen mitten ins turbulente Wirtschaftswunder hinein. Heute gehören die beiden zu den Ältesten im Ortsteil.

In ihrer Jugend hatte der Ort ganz andere Konturen. Nach Westen hin war auf der Bockelstraße, die erst Stuttgarter und später Heumadener Straße hieß, etwa am Reinekeweg Schluss. Auch im Norden, Richtung Lederberg, kam nach dem Sonnenweg nichts mehr. Und das Gebiet „Über der Straße“ gab es noch nicht mal auf dem Papier. Die Bruckenäcker, wie das Land damals hieß, waren Äcker und Wiesen, aber nicht nur. „Früher, 1940 bis 1945, war dort die Flakstellung. Wenn Fliegerangriff war, mussten wir in die Äcker und in den Bunker dort“, erinnert sich Erich Wochner.

Bald ging es los mit den Wohnblocks an der Bockelstraße

Sein Bild veränderte der Flecken ab Mitte der 1950er Jahre. Das Gebiet Heumaden-Süd zwischen Erntedankweg, Nellinger, Kirchheimer und Bockelstraße wurde 1953 zum Bau freigegeben. Bald ging es los mit den Blocks entlang der Bockelstraße, erinnert sich Erich Wochner. Schneller Wohnbau für die Arbeiter in den rasch wachsenden Firmen. Angehörige der Technischen Werke oder Daimler seien dort angesiedelt worden. „Sozialer Wohnungsbau, heute sagt man nullachtfünfzehn“, sagt Erich Wochner. Brunhilde Hald wirkt mit den Gedanken fern. „Wenn man bedenkt, dass dort früher Himbeeren und Brombeeren waren“, murmelt sie.

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Auch Geschäfte entstanden damals. Die Metzgerei Feldwieser an der Bildäckerstraße etwa gibt es seit 1958, erzählt der heutige Chef Wolfgang Sinn (60). „In den 50ern ging der Bauboom los.“ Später kamen die Terrassenhäuser an der Bockelstraße dazu, nahezu 40 Kirschbäume seien dafür gefallen. Die größte Veränderung: Der Bebauungsplan „Über der Straße/Obere Bruckenäcker“ wurde mit der Bekanntmachung im Amtsblatt am 29. Juli 1978 rechtsverbindlich. Das Neubaugebiet wurde Anfang der 80er bis in die 90er besiedelt. Wie sehr Heumaden zu der Zeit explodierte, zeigt sich an den Einwohnerzahlen: Lebten 1950 etwa 1700 Menschen im Stadtteil, waren es 40 Jahre später 8800. In die neuen Gebiete seien fast nur Auswärtige gezogen, „das haben sich die Heumäder nicht leisten können“, sagt Brunhilde Hald und zieht die Augenbrauen hoch.

Die Straßenbahn sieht er vom Fenster aus

Einer der Neuen damals war Siegfried Heinold. Als er 1981 mit seiner Familie von Botnang in die nagelneue Eigentumswohnung am Graphitweg zog, standen die meisten Häuser außenrum schon. 28 Parteien zogen nach einem sozialen Wohnungseigentumsmodell seinerzeit ins Mehrfamilienhaus, die meisten kinderreich. Auch der heute 81-Jährige, gelernter Flaschner und Installateur, brachte drei Kinder mit und erledigte viel mit eigenen Händen. Er zeigt im moosgrünen Bad auf den Boden: selbst verlegt. Die erste eigene Wohnung, „das war uns wichtig für die Rente“, erinnert sich Siegfried Heinold, außerdem genießt er bis heute, dass er so gut durch den ÖPNV angebunden ist. Die Straßenbahn sieht er aus dem Fenster. Früher, in den 80er Jahren, konnte er bis auf die Esslinger Höhe schauen. Heute sind die Bäume zu hoch.

Neig’schmeckte, Zugezogene, Fremde am Rand des Dorfes, in dem sich alle kannten. Die Schulkameraden von damals erinnern sich: Bei den alten Ur-Heumädern kamen diese rasanten Veränderungen seinerzeit nicht gut an – auch, weil die Stadt nach der Eingemeindung viel Boden für drei Mark je Quadratmeter erworben hatte, die Platzpreise nach der Baufreigabe aber in die Höhe schossen. Viele fühlten sich betrogen, heißt es im Heimatbuch. Über die Terrassenhäuser hätten die Einheimischen früher gesagt, „da möcht’ ich nicht mal gestorben sein“, verrät der 80-Jährige.

Viele Landwirte verkauften damals ihren Grund und Boden

Die meisten Landwirte, weiß Siegfried Heinold zu berichten, stellten dennoch von den 60er Jahren an sukzessive auf Nebenerwerb um und verkauften ihr Land. Auch ihn selbst zog es damals nicht auf die elterlichen Felder, die immer weniger wurden, sondern in die Maschinenfabrik Schaudt nach Hedelfingen. In den Terrassenhäusern war Brunhilde Hald bis heute nicht, auch über der Straße ist sie quasi nie. Das alte und das neue Heumaden werden nicht nur von der Kirchheimer Straße getrennt. „Ich bin der Meinung, wir sind bis heute nicht zusammengewachsen“, sagt sie. Von drüber kenne sie kaum jemanden, „außer sie sind in den Vereinen, und das sind wenige“. In der Feuerwehr Heumaden sei auch keiner aus dem Neubaugebiet, sagt Erich Wochner, selbst Mitglied der Altersabteilung. Es gebe kaum Berührungspunkte.

Siegfried Heinold, einer von drüben, bestreitet das nicht. „Die Kirchheimer Straße ist recht trennend.“ Allenfalls zum Einkauf und für Arztbesuche komme er rüber, und innerhalb der Siedlung kenne er nicht so viele. Von den Erstbeziehern sind nicht mehr so viele da, der Kinderspielplatz im Hof ist vor Jahren abgebaut worden. Man sei halt doch zusammengewürfelt, „das ist nicht wie im Dorf“, sagt Siegfried Heinold. Und selbst dort ist heute vieles anders, moniert Brunhilde Hald. „Keiner sagt mehr grüß Gott.“

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