Die Neckarstraße war mal voller Menschen. Foto: Dieter Bühl/Copyright: Rolf Sperlich

Die Neckarstraße war fest in der Hand von Fußgängern: In den 1960ern hat die heutige „Stadtautobahn“ an einem Sonntag Passanten gehört. Unser Stuttgart-Album beleuchtet mit Leserhilfe die Hintergründe eines historischen Fotos.

Stuttgart - Autos sind nicht zu sehen auf dem alten Foto vom Anfang der 1960er Jahre. Passanten haben die Neckarstraße erobert, von der ein Teil 1993 in Willy-Brandt-Straße umbenannt worden ist. Die Menschen tragen überwiegend Sonntagsstaat, wie die Kleidung genannt wird, die man nur zu besonderen Anlässen wählt. Vornehm angezogene Kinder werden an die Hand genommen. Warum ist die breite Straße, die zur „Stadtautobahn“ werden und das Viertel auseinanderreißen sollte, an diesem Tag zu einer riesigen Fußgängerzone geworden? Gab es damals in Stuttgarter bereits autofreie Sonntage?

Man trank Sinalco mit Eierlikör

Im Facebook-Forum unseres Stuttgart-Albums hat das Foto von der mit Fußgängern überfüllten Neckarstraße für eine lebhafte Debatte gesorgt. Die Aufnahme stammt aus dem Nachlass von Dieter Bühl, der als Kellner in dem legendären Young People Club im Keller der Neckarstraße 77 gearbeitet hat. Die Fotoschätze gingen an Rolf Sperlich über, der sie unserem Geschichtsprojekt anvertraut hat. Damit hat er viele Leserinnen und Leser unserer Zeitung erfreut. Für eine gewaltige Resonanz sorgten die Bilder und der Artikel „Der Tanz in ein neues Zeitalter“. In dieser Folge unserer Stuttgart-Album-Serie ging es um das Kellerlokal unweit des Neckartors, wo in den 1960ern Rock ’n’ Roll gespielt wurde und wo man Sinalco mit Eierlikör trank, den sogenannten Blonden Engel oder das sogenannte Schneegestöber. Bei uns in der Redaktion meldeten sich damalige Stammgäste, Mitglieder von Bands, die dort aufgetreten sind, sowie Leser und Leserinnen, die auf den alten Fotos ihren Vater oder ihre Mutter erkannten.

„Logenplatz“ aus dem Balkon der Neckarstraße

In Bühls Fotoalbum vom Young People Club befindet sich die Aufnahme vom Menschenauflauf auf der Neckarstraße, fotografiert von der Ruine jenes Hauses aus, in dem sich das beliebte Kellerlokal befand. Auf den Resten des Hauses standen die jungen Menschen gern, wie auf dem zweiten Foto zu sehen ist. Ja, sie stellten sogar Stühle auf das Ruinendach, um das Treiben draußen bequem verfolgen zu können.

Nein, es war kein autofreier Sonntag, der für den Menschenstrom auf den Fahrbahnen der Neckarstraße gesorgt hat. Erst 1973 hat die Politik beschlossen, wegen der Ölkrise an vier Sonntagen im Jahr 1973 ein Fahrverbot zu verhängen. Facebook-Kommentator Georg Dietl kann das Foto aus den 1960er Jahren erklären: „Man sieht hier die ,Nachhut‘ vom alljährlichen Volksfestumzug. Wir hatten einen Balkon zur Neckarstraße.“ Schon Monate davor hätten sich Freunde dort die „Loge“ gesichert. Das Foto ist also an einem Sonntag zur Volksfestzeit gemacht worden, als der Umzug vorbei war und sich die Menschenmassen den Umzüglern anschlossen und zum Cannstatter Wasen marschierten. Kein Wunder, dass sich der Tross fast ausschließlich nur in eine Richtung bewegt.

Im Hintergrund des Fotos ist der Schornstein von Wulle zu sehen. Die 1859 erbaute Brauerei befand sich auf dem heutigen Gelände des Hotels Le Méridien. 1971 ist die Bierproduktionsstätte, die sich von der Neckarstraße 60 und 62 bis zur Mitte des Kernerplatzes erstreckte, stillgelegt worden.

Diskutieren Sie mit unter www.facebook.com/Album.Stuttgart. Im Silberburg-Verlag sind zwei Fotobücher zu unserer Serie erschienen.