Ausschnitt aus dem Titelblatt des neuen „Stuttgart 1942“-Foto-Magazins. Der Mann auf dem Rad heißt Josef Miller. Foto: Stadtarchiv

Leserin Dorothea Huber hat auf dem Titelbild unseres am Samstag erscheinenden Foto-Magazins „Stuttgart 1942“ eine sehr persönliche Entdeckung gemacht.

Stuttgart - Das ist die Geschichte eines glücklichen Zufalls. Er hat seinen Ursprung in der Serie „Stuttgart 1942“. Seit Mai diesen Jahres veröffentlicht unsere Redaktion Fotografien der unzerstörten Stadt aus dem Bestand des Stadtarchivs. Ein Schatz von 12 000 Fotos, an die sich 12 000 Geschichten knüpfen ließen. Viele wurden bereits erzählt. Diese eine aber verdient besondere Beachtung. Sie handelt von einem Fahrradfahrer, der im Spätsommer 1942 auf der Königstraße radelt. Im Hintergrund ist der Turm des Hauptbahnhofs zu erkennen, rechts das ehemalige Marstallgebäude. Man sieht keine Autos. Nur Fußgänger – und diesen Radler. Dieses Foto erschien unserer Redaktion so markant, dass es als Titelbild für das Magazin „Stuttgart 1942“ ausgewählt wurde, das eine Auswahl der Stuttgart-Fotos zeigt und von diesem Samstag an erhältlich ist.

Als dieses Foto im Mai in der Zeitung veröffentlicht wurde, glaubte Dorothea Huber, eine Leserin aus Oberstenfeld (Kreis Ludwigsburg) ihren Augen nicht zu trauen. Sie erkannte in dem Radfahrer auf der Königstraße ihren Vater! „Das Gesicht, die Augenpartie vom Schatten des Hutes verdeckt, aber die Züge unverkennbar, der Hut, die Aktentasche, die ihn auch noch zu meinen Zeiten begleitete – und das Fahrrad. Es stimmt so alles!“ Um ganz sicher zu gehen, befragte Dorothea Huber zwei Cousinen, die ihren Vater gut kannten. Sie bestätigten ihr: „Es gibt keinen Zweifel! Er ist es!“

Möbelschreiner und Feuerwehrmann

Und so tritt der bis dahin unbekannte Radfahrer plötzlich als Mensch aus Fleisch und Blut hervor: Josef Miller, geboren am 9. August 1904 im schweizerischen St. Gallen als Sohn deutscher Eltern. 1919 zog die Familie nach Stuttgart. 1926, als 22-Jähriger, heiratete er hier seine große Liebe Emma. Sie wohnten in der Römerstraße 14. Im November eben jenes Jahres 1942, von dem unsere Serie handelt, starb Emma. Im September 1942 heiratete Josef Miller ein zweites Mal – Thekla; 1944 und 1947 kamen die Kinder Peter und Dorothea zur Welt.

Dorothea Huber hat die Lebensstationen ihres Vaters nochmals genau nachvollzogen. Vieles weiß sie aus der Erinnerung, denn: „Ich habe immer ein sehr enges Verhältnis zu meinem Vater gehabt.“ Von Beruf war er Möbelschreiner und arbeitete bei der heute nicht mehr existierenden Firma Buschle im Stuttgarter Westen. Außerdem war er bei der Freiwilligen Feuerwehr. „Damals hatte er tageweise Bereitschaft in der Feuerwache“, erzählt Dorothea Huber. Es begann die schreckliche Zeit der Bombennächte. Nach den Angriffen rückte Miller mit seinen Feuerwehr-Kollegen aus, um zu löschen. Eine Fotografie, die Dorothea Huber aufbewahrt hat, zeigt ihn bei einer Übung an der Spritze.

„Ein feiner, rücksichtsvoller Mann

Im Februar 1945 wurde Josef Miller noch zum Kriegsdienst eingezogen. Nach dem, was seine Tochter weiß, musste er nicht mehr kämpfen. Er geriet in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Heimkehr schlief er laut den Erzählungen seiner Tochter zwei Wochen am Stück. Dann ging er wieder arbeiten bei der Firma Buschle. So wie früher. Doch der Krieg hatte Spuren hinterlassen. Als Josef Miller am 17. Juni 1953 vom Volksaufstand in Ost-Berlin hörte, fürchtete er, der nächste Krieg stehe vor der Tür. Am 5. Januar 1969 starb er 64-jährig, wenige Monate vor dem geplanten Ruhestand.

Dorothea Huber schildert ihren Vater als „lieben, feinen, rücksichtsvollen Mann“. Und als engagierten Gewerkschafter. Er sei viel mit ihr spazieren gegangen. Auch mal ins Kino. Sie erinnert sich an eine Max-und Moritz-Verfilmung bei der ihr vor den großen Maikäfern gruselte. Ihr Vater liebte das Kino, und er liebte es zu lachen – besonders wenn Stan Laurel und Oliver Hardy als Dick und Doof auf der Leinwand auftauchten. Auch das Radio hatte es ihm angetan.

Das Fahrrad war Josef Millers „Schatz“

Nicht zu vergessen das Fahrrad, mit dem er viel in der Stadt unterwegs war und auf dem ihn einer der Fotografen, die damals im städtischen Auftrag Stuttgart fotografierten, an jenem Spätsommertag 1942 auf der Königstraße ablichteten. Josef Miller hatte fleißig auf das Rad gespart. „Es war sein Schatz“, sagt seine Tochter. Später sei ihr Bruder damit gefahren.

Dorothea Huber geborene Miller, arbeitete als Sekretärin bei der Stadt. In den 90er Jahren zog sie mir ihrem Mann und ihren zwei Söhnen nach Oberstenfeld. Mit Stuttgart verbindet sie viele Erinnerungen – besonders intensive an ihren Vater. „Ihn 51 Jahre nach seinem Tod radelnd auf der Königstraße zu sehen, ist für mich ein großes Geschenk“, sagt sie. „Ich bin dem damaligen Fotografen sehr dankbar – auch der Redaktion, die diese Serie ins Leben gerufen hat.“

Das Magazin „Stuttgart 1942“ hat 116 Seiten und enthält viele noch nicht veröffentlichte Bilder aus dem Bestand des Stadtarchivs, dazu Texte aus der Serie und zum Projekt. Es ist von Samstag an für 14,90 Euro in Stuttgarter Kiosken erhältlich, etwa am Hauptbahnhof und bei Wittwer-Thalia. Außerdem in unsrem Onlineshop, wo mit Paypal oder Kreditkarte gezahlt werden kann: stn.de/s42magazin.