Man kennt sich: Nachbarinnen auf einer Fotografie aus dem Freilichtmuseum Beuren Foto: /Horst Rudel

Die Welt ist aus den Fugen? Diese Angst haben auch die meisten Baden-Württemberger – allerdings nicht in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld, wie eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zeigt.

Stuttgart - Die allermeisten Menschen in Baden-Württemberg empfinden in ihrem näheren Umfeld einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt – trotz aller Umbrüche in der Welt. Zu diesem Resultat kommt die Bertelsmann-Stiftung nach einer Befragung von 1400 Frauen und Männern im Land. Am Dienstag hat sie die mit 70 000 Euro vom Stuttgarter Sozialministerium geförderte Untersuchung vorgestellt, und einer der Autoren, der Sozialforscher Klaus Böhnke, kam zum Schluss: „Das Bild in Baden-Württemberg ist außergewöhnlich gut.“

So fühlen sich 94 Prozent der Menschen in ihrer Wohngegend sicher und glauben, dass dies ein guter Ort sei, um Kinder aufwachsen zu lassen. Immerhin 90 Prozent halten ihre eigene wirtschaftliche Lage für gut oder sehr gut, auch die Spendenbereitschaft ist hoch. Der Anteil derer, die Freunde oder Bekannte haben, die ihnen im Notfall 1000 Euro leihen würden, liegt bei über 70 Prozent.

Woher rührt der Widerspruch?

Im Widerspruch zu diesen positiven Eindrücken aus dem Nahbereich steht jedoch die allgemeine Sorge um den Zusammenhalt in Deutschland. 79 Prozent der Baden-Württemberger halten ihn für gefährdet, das sind drei Prozentpunkte mehr als 2017. Lediglich ein Viertel der Befragten haben ausdrücklich keine Bedenken. „Daraus kann man schließen, dass die allgemeine Sorge kaum in eigenen Erfahrungen gründet“, kommentieren die Autoren diesen Widerspruch. Vermutlich werde sie eher von öffentlichen Debatten und Medienberichten angestoßen.

Regionale Unterschiede machen die Autoren im Südwesten nur auf wenigen Feldern aus. „Während auf dem Land ein Mangel an Fachärzten beklagt wird, sind Großstädter bei der Pflege skeptischer“, schreiben sie.

Bei den verschiedenen sozialen Gruppen machen sich schon eher Differenzen bemerkbar. „Von einer starken sozialen Spaltung kann man zunächst nicht sprechen, aber es gibt Risikogruppen, die ein weniger starkes soziales Miteinander erleben als andere“, resümieren die Autoren. So sind nur 37 Prozent der „Einkommensarme“ Mitglied in einem Verein, in der höchsten Einkommensklasse sind es gut 63 Prozent. Niedriges Einkommen gehe oft auch mit mangelndem Interesse für Politik einher.

Frauen sehen mehr Probleme als Männer

Zu den „Risikogruppen“ zählen die Autoren unter anderem chronisch Kranke und Menschen mit Migrationshintergrund. Ihre sozialen Beziehungen und ihre Gemeinwohlorientierung seien schwächer ausgeprägt, heißt es. Frauen erleben den Zusammenhalt keineswegs so positiv wie Männer. Sie sähen mehr soziale Probleme in ihrem Umfeld, und auch ihre gesellschaftliche Teilhabe sei geringer, heißt es. Und während sich von den Männern 58 Prozent stark oder sehr stark für Politik interessieren, seien es bei den Frauen nur knapp 32 Prozent. Fast drei Viertel der Frauen im Land glauben, dass die Politik zu wenig für Gleichberechtigung tut.

Deutliche Unterschiede treten auch in der öffentlichen Wahrnehmung von Flüchtlingen zutage. Die Frage, ob sie große Probleme mit Flüchtlingen in ihrer Wohngegend erleben, wird zwar von 82 Prozent der Menschen verneint. Hingegen tendieren Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss oder mit chronischer Erkrankung – zu dieser Kategorie zählt sich immerhin ein Drittel der Befragten – stärker dazu, große Probleme mit Geflüchteten zu sehen.

Die Ziele der Sozialpolitik

Damit aus den Schwachstellen keine Spaltungen werden, empfiehlt die Studie der Landesregierung, gezielt in die soziale Infrastruktur vor Ort zu investieren: „Eine kluge Sozialpolitik, die der sozialen Segregation entgegenwirkt, Chancengleichheit und Teilhabe unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen verbessert, unterstützt den Zusammenhalt vor Ort.“

Sozialministerin Manfred Lucha (Grüne) sieht die Umfrage denn auch als Beleg dafür, dass die millionenschweren sozialpolitischen Maßnahmen greifen – so etwa die Einrichtung von 1200 „Integrationsmanagern“, die Flüchtlinge bei der Eingliederung an die Hand nehmen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte, das Land werde auch weiterhin bürgerschaftliches Engagement fördern. Denn ein starkes Gemeinschaftsgefühl sei die beste Schutzimpfung gegen Verunsicherung, Hass und Angst.