Der Dialekt – eine aussterbende Art? Foto: Zeichnung Peter Ruge

Mundart wird immer weniger gesprochen, wie eine Studie des Ludwig-Uhland-Instituts zeigt. Das heißt aber nicht, dass der Dialekt tot ist.

Was ältere Dialektsprecher seit Längerem im Gefühl und vor allem im Ohr haben, ist jetzt wissenschaftlich bestätigt: Die Kinder in dem an Mundarten ursprünglich reichen Baden-Württemberg sprechen immer weniger Dialekt. Landesweit gesehen sind es noch etwa 30 Prozent der Erst- und Zweitklässler, die sich im Unterricht auf Schwäbisch, Alemannisch, Fränkisch oder Kurpfälzisch ausdrücken. Berücksichtigt man nur den jeweiligen Ortsdialekt, dann sind es etwa zwölf Prozent. 17,5 Prozent sprechen im Unterricht einen „nicht so starken Dialekt“. Die Kategorie „Regional gefärbtes Hochdeutsch“ trifft für knapp 42 Prozent der Kinder zu. Reines Hochdeutsch oder das, was man dafür hält, sprechen knapp 35 Prozent der jungen Schülerinnen und Schüler.

697 Schulklassen haben sich beteiligt

Zu diesem Ergebnis kommt die vom Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften durchgeführte bisher umfangreichste Untersuchung zum Sprachverhalten von Grundschülern in Baden-Württemberg. Professor Hubert Klausmann, der Leiter des Forschungsprojekts, und sein Team hatten landesweit sämtliche Grundschulen angeschrieben – und einen erfreulich hohen Rücklauf erhalten: 13 591 Kinder aus 697 Schulklassen, die von 705 Lehrerinnen und Lehrern betreut werden, sind mit ihrem Sprachverhalten in der 2019 durchgeführten und 2021 ausgewerteten Befragung abgebildet. Anlass war die 2018 von Ministerpräsident Winfried Kretschmann gestartete Dialektinitiative. Als Vorbild diente eine Erhebung in Bayrisch-Schwaben mit Kindergartenkindern. Eigentliche Triebfeder war jedoch die wissenschaftliche Neugier: „Wir wissen bisher einfach zu wenig“, stellte Klausmann fest. Die Eva-Mayr-Stihl-Stiftung half dabei, Licht ins Dunkel zu bringen, indem sie das Vorhaben finanziell unterstützte. „Dialekt ist ein hohes Kulturgut, das es zu erhalten gilt“, sagte Michael von Winning, Vorstandsmitglied der Stiftung, zur Begründung.

Die Ostalb – eine Hochburg des Schwäbischen

Die Dialektschmelze in Baden-Württemberg verläuft nach der von Hubert Klausmann am Montag in Tübingen vorgestellten Untersuchung regional unterschiedlich. Das lässt sich auch an der Beteiligung ablesen. Während aus den Großstädten kaum Rückmeldungen kamen, machten auf der Ostalb besonders viele Grundschulen bei der Befragung mit. Dabei zeigte sich: Der Dialekt ist überall dort weiterhin stark vertreten, wo die Großstadt weit entfernt liegt und es ein ausgeprägtes regionales Bewusstsein gibt. Auf der Ostalb drückt sich das so aus: mehr als die Hälfte der Erst- und Zweitklässler (rund 57 Prozent) sprechen auch heute noch Dialekt oder einen nicht so starken Dialekt. Landesweit ein Spitzenwert. Klausmann nennt die ostschwäbischen Räume deshalb „Rückzugsgebiete für den Dialekt“. Einen hohen Identifikationsgrad stellt er auch in Hohenlohe fest, wo sich die gleichnamige charakteristische Mundart gut behaupte. Das Alemannische hingegen tue sich schwer, weil es weniger klar verortet sei und sich von der Standardsprache stärker unterscheide.

Sprachforscher Klausmann setzt auf Aufklärung

Als Hauptgründe für Rückgang der Mundart hat Klausmann mehrere Faktoren ausgemacht: vor allem die zunehmende Mobilität und das Verharren in „sprachlichen Ideologien“. Dazu zählt er den „Standardismus“ und die „Homogenisierung“, mithin die Annahme, dass es immer nur eine korrekte und damit auch höherwertige Ausdrucksform gebe. „Ein Irrtum“, findet er. Ebenso wie der „Hannoveranismus“, die durch die Sprachwissenschaft widerlegte Annahme, dass in Hannover „das beste Deutsch“ gesprochen werde. Dem Dialekt setzten solche Einstellungen und Vorurteile nachhaltig zu.

Klausmann will ihnen mit „Aufklärung“ begegnen und mit einem starken Plädoyer für Varietät, wie sie viele Lehrerinnen und Lehrer bewusst praktizierten. Seiner Untersuchung zufolge wechseln viele von ihnen zwischen den sprachlichen Registern hin und her – je nach Situation. Der Sprachforscher sieht darin die Bestätigung, dass es die schlichte Gegenüberstellung von Hochdeutsche und Dialekt „nicht gibt“. Die Wirklichkeit bestehe vielmehr aus vielen Nuancen und Variationen.

Gleichzeitig bekennen sich viele der Lehrkräfte zum Dialekt. Knapp 23 Prozent von ihnen geben an, privat Dialekt zu sprechen, weitere rund 29 Prozent sprechen einen nicht so starken Dialekt – ihr Anteil ist damit höher, als der der Kinder, worin Klausmann einen Hinweis darauf sieht, dass der Dialekt insgesamt auf dem Rückzug ist.

In der Schweiz gibt es den Willen, „verstehen zu wollen“

Interessant auch: 50 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer finden Dialekt „schön“ und 40 Prozent halten ihn für „wichtig“. Viele Lehrkräfte sagen aber auch, Mundart sei „nicht vorteilhaft“ für die Kinder – und bestätigen Klausmann in seiner Kritik daran, dass Mundartsprecher auch heute noch diskriminiert würden. Und sei es nur in Form vermeintlich harmloser Formulierungen wie: „Kannst Du das nochmal schöner sagen“. Gemeint ist die Standardsprache.

Abschreiben tut Klausmann den Dialekt deshalb aber noch lange nicht. Hoffnung setzt er unter anderem in die Ausbildung angehender Lehrerinnen und Lehrer. Dem Kultusministerium komme eine Schlüsselstellung zu, betont er. Auch bei der Wertschätzung von Mehrsprachigkeit. Die Schweiz sieht er dabei als Vorbild an. Dort gehöre es zum guten Ton, sich im Ortsdialekt auszudrücken. Anders als hierzulande gebe es bei den Schweizer Nachbarn den Willen, „verstehen zu wollen“.

Klausmann selbst will noch viel mehr verstehen, die Dialektforschung über die Schule hinaus auf andere Lebensbereiche ausweiten. Trotz des schleichenden Rückgangs ist er überzeugt: „Es lohnt sich, etwas für den Dialekt zu tun.“ Besonders dort, wo er noch lebt.