Strom und Gas erreichen in diesem Winter Rekordpreise. Unser Foto zeigt das niedersächsische Gaskraftwerk Lingen. Foto: AFP/Ina Fassbender

Etliche Strom- und Gaskunden, die ihren billigen Anbieter von heute auf morgen verloren haben, sehen sich jetzt mit sehr hohen Preisen konfrontiert. Das sorgt für Ärger.

Stuttgart - Zwei Tage vor Weihnachten ist die vorerst größte Bombe am deutschen Strommarkt in diesem Winter geplatzt: Der Billiganbieter Stromio mit seiner Vertriebsmarke Grünwelt hat sämtliche Stromlieferverträge von jetzt auf sofort gekündigt. Verbraucherschützern zufolge sind bundesweit mehrere hunderttausend Haushalte betroffen. „Ab dem 22.12.2021 übernimmt der örtliche Ersatzversorger automatisch und ohne Unterbrechung Ihre Stromversorgung“, heißt es auf den Internetseiten von Stromio und Grünwelt mit Sitz in Kaarst (Nordrhein-Westfalen).

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Eben jene Ersatzversorger hatten deshalb plötzlich mehrere hundert oder gar tausend neue Kunden zu beliefern. Allein bei den Stadtwerken Pforzheim waren es ihrem Geschäftsführer Herbert Marquard zufolge 1000 Haushalte. Seither machen die Stadtwerke Schlagzeilen: Denn Pforzheim hat anlässlich der Neukundenschwemme einen neuen Grundversorgungstarif aufgelegt, der für die Kilowattstunde (kWh) einen Preis von 107,66 Cent vorsieht – das ist das 3,4-Fache dessen, was die Stadtwerke von ihren Bestandskunden in der Grundversorgung verlangen: 31,98 Cent/kWh. „Wir haben am 22. Dezember auf den Börsenpreis geguckt“, so Marquard, „und den haben wir als Berechnungsgrundlage genommen.“ Sollte es weitere Fälle wie Stromio geben, werde man wieder so verfahren, so Marquard, und wieder einen am Tageskurs orientierten Preis auflegen. Außerdem sei jedem Neukunden ein günstigerer Vertrag angeboten worden. Normalerweise müssen Grundversorger Preiserhöhungen sechs Wochen vorher ankündigen. Dies umgehen gesplittete Tarife, weil sie neben den bisherigen Grundversorgungstarifen gelten. Welcher Preis gezahlt werden muss, richtet sich nach dem Datum des Vertragsabschlusses.

Verbraucherschützer: „Mit Beschaffungskosten nicht zu rechtfertigen“

Verbraucherschützer Wolfgang Schuldzinski, Vorstand der Verbraucherzentrale NRW, kritisiert dieses Vorgehen: „Hier liegt der Verdacht nahe, dass Betroffene abgestraft werden sollen, die in der Vergangenheit den Grundversorgern den Rücken zugekehrt haben.“ Allein mit den gestiegenen Beschaffungskosten sei dies nicht zu rechtfertigen. Am Donnerstag teilte die Verbraucherzentrale NRW mit, sie habe Abmahnungen an die Rheinenergie, die Stadtwerke Gütersloh und die Wuppertaler WSW Energie & Wasser AG verschickt und rufe die Energiekartellbehörde NRW zum Handeln auf.

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„Bei allem Verständnis für die nicht ganz einfache Situation der Grundversorger – so geht es nicht. Die Benachteiligung von Verbraucher:innen, die ohne eigenes Verschulden in die Grundversorgung zurückfallen, ist rechtswidrig und widerspricht dem eigentlichen Schutzzweck der Grundversorgung“, so Schuldzinski. „Wir werden daher mit allen juristischen Mitteln gegen diese Benachteiligung vorgehen, die nur auf Grundlage eines willkürlich festgelegten Stichtags erfolgt.“

Auch das Bundeskartellamt hat Bedenken

Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, spricht von „missbräuchlich überhöhten Mondpreisen“. Er sehe die Praxis der Tarifspreizung kritisch, „auch wenn ein gewisser Preisunterschied angesichts der derzeitigen Verwerfungen am Markt und der sehr hohen Beschaffungskosten gerechtfertigt sein könnte“, räumt er ein.

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Der Hauptgeschäftsführer des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU), Ingbert Liebing, hält dem entgegen: „In der Grundversorgung finden sich häufig sozial schwache Kunden, die mangels Bonität von anderen Versorgern kein Angebot bekämen. Nun kommen Neukunden hinzu, häufig von Energiediscountern: Wer immer kurzfristig auf die höchste Einsparung setzt, bezahlt das auch mit einem höheren Risiko.“ Würde man keine gesplitteten Tarife für Bestands- und Neukunden einführen, müssten die sozial schwachen Haushaltskunden – also die besonders schutzbedürftigen -, die Kosten der Ex-Kunden anderer Lieferanten mittragen, so Liebing. Ihnen den Preis für dieses Risiko aufzubürden, entspreche nicht „unserem Verständnis von sozialer Verantwortung“.

Es gibt bereits fast 500 gesplittete Tarife

So wie die Stadtwerke Pforzheim haben mittlerweile etliche Grundversorger mehrere Ersatzversorgungstarife aufgelegt. Nach Auskunft des Leipziger Energie-Informationsdienstleisters GET AG, der auch das Vergleichsportal Preisvergleich.de betreibt, trifft das bislang auf 252 Gasgrundversorger und 247 Stromgrundversorger zu. Darunter gibt es sogar solche, die mehr als einen Neukundentarif haben: Bei der NEW Niederrhein Energie und Wasser GmbH beispielsweise sind es laut GET mittlerweile 4 alternative Tarife, die Stadtwerke Tübingen haben neben ihrer normalen Grundversorgung zwei weitere Auffangtarife.

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Ähnlich drastische Preise wie der Spitzenreiter Stadtwerke Pforzheim verlangt laut GET noch die Energieversorgung Sehnde GmbH in Niedersachsen von Neukunden: Sie rufen für die Kilowattstunde 102,9 Cent auf. Der Durchschnittspreis der Splittarife liege bei 64,73 Cent und damit im Schnitt 86 Prozent höher als der Bestandskundentarif in der Grundversorgung. Die EnBW, Grundversorger unter anderem in Stuttgart, hat bislang keine gesplittete Grundversorgung.