Blick in das Schwabenbräu-Zelt beim Volksfest Foto: dpa/Sina Schuldt

Es ist erstaunlich. Da lästert ein Zeltbauer über das Oktoberfest. Und in München schäumen sie, machen ein Fass auf. Was ist nur aus der bajuwarischen Gelassenheit geworden? Oder fürchtet man gar die Konkurrenz aus Stuttgart?

Stuttgart - In München werden sie nervös. Im Lande der Bayern, wo sie Laptop und Lederhose erfunden haben, sowie das Blaue im Himmel und das Bier, straften sie bisher das Cannstatter Volksfest mit Missachtung. Das Oktoberfest war der König Ludwig unter den Festen: Gottgleich und leicht größenwahnsinnig. Neben dem König kann es keinen geben. Den Rummel tief im Südwesten erwähnte man so gut wie nie. Und jetzt das: Münchens frisch gebackener Wirtschaftsbürgermeister Clemens Baumgärtner redete sich über das Volksfest in Rage. Er erörterte ausführlich, warum der Rummel in Bad Cannstatt dem Oktoberfest, „dem Original, dem Gesamtkunstwerk“ nicht das Wasser reichen könne, geschweige denn die Maß.

Das bajuwarische Selbstbewusstsein ist erschüttert

Was hat das bajuwarische Selbstverständnis nur so erschüttert? Der Zeltbauer Silvio Döllinger baut mit seiner Mannschaft gerade die drei großen Brauerei-Zelte von Hans-Peter Grandl, den Brüdern Klauss und Michael Wilhelmer sowie das Zelt von Sonja Merz auf dem Wasen auf. Die Kollegen von dpa haben ihm dabei zugeschaut. Dabei hat Döllinger en passant gesagt: „Von den Festzelten ist Wasen schon Champions League – für mich!“ Die Zelte in München seien riesige Holzhallen, „hier hast du halt wirklich, ich sag schon fast, Restaurant.“

Der Experte sagt: Wir haben München überholt

Die Wirte schauten genau aufs Detail, auf der Wiesn sei es nicht ganz so extravagant. Zum Beispiel bei den Bierschenken: „Wenn du in München reinguckst, siehst du nur Edelstahl, hier müssen wir alles mit Holz verkleiden. Alles“, sagt er. Sein Fazit: „Von den Zelten her haben wir München überholt.“ Da er auch beim Oktoberfest schon Zelte aufgebaut hat, darf man ihm eine gewisse Expertise zubilligen. Sind Stuttgarts Zelte wirklich schöner? Das findet auch Werner Klauss, Sprecher der Volksfest-Wirte. Er sagt kurz und knapp: „Recht hat er!“

In München fanden sie das gar nicht gut. Prompt riefen sie in Stuttgart bei der Volksfest-Veranstalterin in.Stuttgart an und beschwerten sich. Dort versuchte man in aller Ruhe zu erklären, dass Silvio Döllinger für die Pletschacher-Gruppe arbeite, sich mithin also als Privatmann geäußert und die Stadt Stuttgart deshalb nicht satisfaktionsfähig sei. Offenbar drang man damit nicht durch. In München beförderte man Döllinger zum Wasen-Aufbauchef, wollte die Verantwortlichen „zur Besichtigungstour mit Vollprogramm“ einladen.

Sagt man der der die Wasen?

Wo Bürgermeister Baumgärtner schon dabei war, legte er gleich richtig los. Das Fest in Stuttgart kennt er zwar nicht, hat er gesagt, nur von Videos oder was man ihm so erzählt hat. Damit hatte er eigentlich den Punkt erreicht, wo der Philosoph schweigt. Der Politiker jedoch gerne ein „aber“ folgen lässt. Warum soll fehlende Anschauung und Kenntnis einen am Schwadronieren hindern? Also plauderte Baumgärtner weiter. „Sagt man der oder die Wasen?“ fragte er sich. Und findet, das Oktoberfest sei keine Konzertveranstaltung, „wo Super-Popbands auftreten“. Die Fantastischen Vier findet er „schon absolut geil. Mit einer Wiesn haben sie aber gar nichts zu tun“. Mit dem Volksfest auch nicht.

Die Fanta Vier treten auf dem Wasen auf

Aber sortieren wir doch erst mal. Punkt für Punkt, damit es auch in München ankommt. Es heißt weder die Wasen noch der Wasen. Sondern das Cannstatter Volksfest. Und es findet auf dem Wasen statt. Dort stehen oft stuttgart-typisch viele Autos rum, manchmal feiert der VfB dort auch seine Bundesliga-Aufstiege. Vor 60 000 Zuschauern. Das sind mehr als bei den letzten zehn Meisterfeiern der Bayern auf den Marienplatz kamen. Aber das nur am Rande. Auf dem Wasen finden auch Open-Air-Konzerte statt. Etwa der Fantastischen Vier. Die kommen zwar gerne aufs Volksfest, aber nicht zum Singen, sondern zum Bier trinken. Howard Carpendale hat übrigens schon mal beim Volksfest musiziert, aber leider ist nicht überliefert, ob man den in München auch „absolut geil“ findet.

Der Pietist braucht die Nische

Die Zelte müssen ja auch anders sein als in München. Während der barocke Katholik gerne der Sünde frönt, weil er ja sonst nichts zum Beichten hätte, muss man den Pietisten zum Feiern zwingen. Dem kann man keine Holzhalle für 10 000 Leute hinstellen, wo ihn jeder sieht. Der braucht Logen, Nischen und Oberränge, wo man dem Essen und Trinken frönen kann, ohne dass der Nachbar einen entdeckt und denkt, man würde am Nichtstun Gefallen finden. Und das womöglich noch weiter erzählt. Nur dermaßen verborgen und versteckt, kann sich der Schwabe enthemmen und spät am Abend sogar ein Tänzchen auf der Bank wagen.

Der Herr Baumgärtner kann sich ja mal umschauen. Dabei muss er sich nicht mal umziehen. Seit Jahrzehnten fordern wir Schwaben: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus!“ Das führt nun dazu, dass wir das speckige, ranzige Zeugs auftragen. Auch beim Cannstatter Volksfest sieht es deshalb mittlerweile aus wie beim Treffen des CSU-Bezirksverbands Niederbayern. Clemens Baumgärtner sollte mithin nicht fremdeln.

Das Volksfest betont seine Wurzeln

Er braucht auch keine Angst haben vor Konkurrenz. Vor Urzeiten mal glaubte man in Stuttgart den Minderwertigkeitskomplex mit frei erfundenen Besucherzahlen bekämpfen zu müssen und sich größer zu machen als man war. Das hat sich geändert. Man versteht sich nicht mehr als Kopie und besinnt sich seiner eigenen Wurzeln. Während das Oktoberfest ja eine aus den Fugen geratene Hochzeit ist, ist das Volksfest aus einer Hungersnot entstanden: gestiftet als Erntedankfest. Also ein zutiefst schwäbisches Fest, erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Das Oktoberfest ist eine Marke eigener Prägung, weltweit bekannt, in fast allen Belangen eine Nummer größer. Das Volksfest ist dagegen kleiner, leiser, feiner – und schöner.