Ulrich Bernhardt sieht die Stadt im Streit um die Reitzensteinstraße in der Pflicht Foto: Joachim E. Röttgers

Vom Modell zum Debakel? Künstler sehen die Zukunft der Atelierhäuser Reitzensteinstraße in Stuttgart bedroht. Aus ihrer Sicht bedrohen Erbpacht-Erhöhungen die Zukunft. Die Stadt verweist auf Zugeständnisse.

Stuttgart - Es war einmal – das ist ein Versprechen. Auf ein Märchen. Auf Abgründe auch, aber doch auf einen guten Ausgang.

Die „Reitzensteiner“ schlagen Alarm

Es war einmal – das ist für die Künstlerinnen und Künstler, die in Stuttgart in den Atelierhäusern Reitzensteinstraße arbeiten und zum Teil auch leben, nur mehr Erinnerung. In der Gegenwart ringen sie – aus eigener Sicht – um ihre Existenz. Das einstige Vorzeigemodell von elf selbst finanzierten Atelierhäusern auf städtischem Grund wird mehr und mehr zur Bedrohung. Die Erbpacht für die Grundstücke erweist sich als bedrängende Kostenfalle. Jetzt schlagen die „Reitzensteiner“ Alarm.

Mietkostennot auch Ende der 1980er Jahre

Am Anfang steht die Not: Ende der 1980er Jahre steigen in Stuttgart die Mieten rasant an, günstige Flächen für Malerateliers und Bildhauerwerkstätten sind kaum mehr zu finden. Die große Abwanderung beginnt. Der Objektkünstler Jo Schöpfer will bleiben, sucht einen Ausweg – und schlägt der Stadt ein Modell vor: Künstler bauen ihre Ateliers selber, das Grundstück stellt die Stadt per Erbpachtvertrag zur Verfügung.

Initiator Jo Schöpfer

Schöpfer findet Mitstreiter – Julio Rondo, Camill Leberer, Erdmut Bramke, Wolfram Ullrich, Rudolf Schoofs, Herbert Egl, Christoph Freimann, Karl Pfahler, Nikolaus Koliusis sowie Gudrun und Ulrich Bernhardt. Und mit dem Architektenpaar Elisabeth und Fritz Barth kunstbegeisterte Planer.

Auch Manfred Rommel war begeistert

Begeistert ist auch der damalige Oberbürgermeister Manfred Rommel: „Dieses Projekt“, sagt Rommel seinerzeit, „möge dafür sorgen, dass wir die guten Künstler in Stuttgart halten und nicht verlieren“. 1991 werden ersten der elf Einheiten der mit dem Hugo Häring Preis ausgezeichneten Anlage bezogen. Ulrich Bernhardt gehört zu jenen, die warten müssen – das Erdreich des vormaligen Industrie-Areals muss aufwendig entsorgt werden. Jetzt wartet Bernhardt wieder – auf Antworten der Stadt Stuttgart.

„Bei dem Preis einer Miete angelangt“

„Inzwischen“, sagt Bernhardt, „sind wir bei der Pacht für das Grundstück nahezu bei dem Preis einer Miete angelangt, obwohl wir den Hausbau selbst bezahlt haben. Wir haben uns vor 26 Jahren zu dem Bauprojekt entschlossen, um den für Künstler unbezahlbaren Mietpreisen in der Stadt zu entgehen.“

Ulrich Bernhardt und seine Künstlerkollegen sind „irritiert“

Die jüngste Anpassung der Erbpacht-Forderungen irritiert den einstigen Künstlerhaus-Mitbegründer Bernhardt und seine Kolleginnen und Kollegen besonders – „um so mehr, da unsere Ateliers direkt an der Cannstatter Straße liegen, dem Feinstaub Hotspot Deutschlands. Wir beklagen uns nicht, dass wir als lebende Feinstaubfilter geduldet werden, wundern uns aber doch, dass wir dafür auch noch 11,85 Prozent mehr bezahlen sollen“. Und Bernhardt erinnert: „Wir haben damals 1990 in Selbsthilfe und mit eigenem Geld diese preisgekrönten Atelierhäuser erbaut ohne Bauzuschuss der Stadt und mit anfänglichen Zinsen von über acht Prozent.“

Stadt sieht deutliche Entlastungen für die „Reitzensteiner“

War den Beteiligten klar, welchen Vertrag sie mit der Erbpacht-Reglung eingegangen sind? Auch darüber wird jetzt gestritten. „Der Erbbauzins“, lässt die Stadt auf Anfrage wissen, „soll ein angemessenes Entgelt für die Nutzung des Bodens darstellen und ist daher laufend anzupassen. Ein Orientierungspunkt sind die Lebenshaltungskosten“. „Zum Vergleich“, heißt es weiter aus dem Rathaus: „Der Bodenrichtwert der umliegenden Gebiete der Künstlerateliers hat sich von 2009 (letzter Erhöhung) auf heute um ungefähr 160 Prozent mehr als verdoppelt, wohingegen die Erbbauzinserhöhung in diesem Zeitraum nur um 11,85 Prozent erfolgt.“ „Auch die Mieten in Stuttgart“, so die Stadt weiter, „sind im Vergleich deutlich stärker gestiegen“ – und: „Im übrigen wir reden von Mietsteigerungen von 160 bis 360 Euro im Jahr“.

Erbbauzinsen sind an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten gekoppelt

Gibt es dennoch Überlegungen, die Erbpacht-Regelung für die Reitzensteinstraße zu überprüfen? „Nein“, antwortet die Stadt – und erinnert: „Die Stadt hat das Atelierprojekt seinerzeit unterstützt, indem der für kulturelle Nutzungen vom Gemeinderat festgesetzte Erbbauzins in diesem Fall um 50 Prozent reduziert wurde.“ Ein Problem für die Künstlerinnen und Künstler: Wie bei Erbbaurechtsverträgen üblich, enthält auch dieser Vertrag eine Wertsicherungsklausel, durch die die Erbbauzinsen an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten gekoppelt werden. Anpassungen sind vorgesehen, wenn seit der letzten Veränderung mindestens drei Jahre vergangen sind und sich die Lebenshaltungskosten seither um mehr als zehn Prozent verändert haben.

Preissteigerungen nicht an die Künstler weitergegeben

Jetzt schreibt die Stadt: „Um der zum Teil angespannten finanziellen Lage der Erbbauberechtigten Rechnung zu tragen, wurden bei insgesamt drei Anpassungen seit 1990 die Preissteigerungen gemäß Lebenshaltungskosten- beziehunsweise Verbraucherpreisindex zwei Mal nur zur Hälfte an die Erbbauberechtigten weitergegeben.“ Aktuell arbeiten Christina Barroso, Ulrich Bernhardt, Herbert Egl, Frieder Grindler, Niko Grindler, Nikolaus Koliusis, Camill Leberer, Dirk Lenz, Jo Schöpfer, Wolfram Ullrich und Danielle Zimmermann in den Häusern.

„Bestimmungen umgesetzt“

Alles gut also? „Die letzte Anpassung erfolgte im Jahr 2009“, lässt die Stadt wissen, „die nun zum 1. Juli vorgenommene Erhöhung beläuft sich auf 11,85 Prozent, somit weniger als 1,2 Prozent pro Jahr“. „Mit unserem Erhöhungsschreiben vom 3. Juni“ heißt es denn auch in einer unserer Zeitung vorliegenden Antwort auf schriftliche Einwände der Reitzensteiner, „haben wir die von sämtlichen Erbbauberechtigten anerkannten Bestimmungen des Erbbaurechtsvertrags umgesetzt“.

Stuttgarts OB Fritz Kuhn muss entscheiden

Die Fachämter sehen Oberbürgermeister Fritz Kuhn am Zug: „Wie ich Ihnen am Telefon mitteilte, muss von Herrn OB Kuhn entschieden werden, ob er Ihrem Wunsch nach einer Reduzierung der Erbbauzinserhöhung oder gar einem Nachlass auf den bisherigen Erbbauzins nachkommt.“

Stadt drängt auf Zahlung

Der letzte Hinweis? „Ich bitte Sie dringend, die ausstehende Erbbauzinszahlung kurzfristig vorzunehmen, um weitere Kosten (Verzugszinsen, Mahngebühren...) zu vermeiden.“ Und der Trost: „Sollte von Herrn Kuhn eine andere Entscheidung getroffen werden, werden Ihnen selbstverständlich evtl. zuviel bezahlte Erbbauzinsen wieder erstattet.“