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Landesschiedsgericht befasst sich mit strittigen Thesen des früheren Berliner Finanzsenators.  

Berlin - Thilo Sarrazin ist schwer zu verstehen. Dabei weckt sein Sprachfehler eher noch Sympathie, weil ein Mann, der derart nuschelt, am Gebiss vorbeizischelt und so oft "also" in seine Sätze einfügt, um zu lange Stotterpausen zu überspielen, zumindest nicht übertrieben eitel sein kann. Aber was bedeutet das schon? Thilo Sarrazin ist gewissermaßen eine einzige permanente Übertreibung.

Sie wollen ihn aus der Partei treiben, weil er der SPD schade und ihrer inneren Solidarität. Und sie wollen es so aussehen lassen, als habe der 65-jährige frühere Finanzsenator der Hauptstadt und jetzige Bundesbank-Vorstand sich das selbst zuzuschreiben. Und im Grunde bettelt Sarrazin ja darum, rausgeworfen zu werden von diesen Sozialdemokraten, die sich - gerade in Berlin - ein wahres Bild von langzeitarbeitslosen Hartz-IV-Empfängern und deren finanzieller Ausstattung machen sollten. Oder von türkischen und arabischen Zuwanderern und deren autarkem Parallelleben. Von allen Ausprägungen menschlicher Bequemlichkeit, Faulheit, Gerissenheit also und - ja, auch von der genetischen Disposition dieser Leute, die sie ja zwangsläufig diese verheerende Entwicklung nehmen lässt. Damit diese SPD aufhört, in der Kategorie "arm, aber sexy" zu denken, die ihr Vorsitzender und Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit so fahrlässig kokett vor sich herträgt.

So in etwa denkt Sarrazin. Er, diese einzige permanente Übertreibung. Im Originalton klingt das beim Thema Hartz IV so: "Die Frage nach angemessenen Hartz-IV-Sätzen ist keine Geldfrage, sondern eine Frage der Mentalität, des Wollens und der Einstellung. Wo diese fehlt, hilft auch kein Geld, und wo diese da ist, ist das Geld gar nicht so wichtig." Oder beim Thema Sparen im Alltag: "Sie sollten besser kalt duschen. Ist doch eh viel gesünder. Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben." Wahlweise: "Reduzieren Sie die Heizung auf 18 Grad und ziehen stattdessen dicke Pullover an." Oder beim Thema Nachkommen von Zuwanderern: "Eine große Zahl von Arabern und Türken in Berlin hat keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt und diesen Staat ablehnt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert." Langzeitarbeitslosen rechnet er vor, wie mit knapp fünf Euro pro Tag drei Mahlzeiten zuzubereiten sind.

Und da steht dieser Satz über Bildungsmaßnahmen für Kinder aus benachteiligten Familien im Raum: "Intelligenz wird vererbt, und es ist fraglich, ob es sinnvoll ist, noch mehr Geld in die Bildung von Unterschichtskindern zu stecken." Dieser Spruch ärgert Heinz Buschkowsky. Dabei ist der SPD-Bezirksbürgermeister von Neukölln selbst keiner, der jemanden schont. Manche verglichen ihn bis dahin mit Sarrazin, weil er schonungslos beim Namen nennt, was viele in der Stadt verdrängen: dass es Ausländer-Kieze gibt, die der Stadt verloren gehen - auf immer abgehängt.

Doch dass Sarrazin den Erfolg von Bildung infrage stellt, bringt Buschkowsky auf die Palme. "Damit stellt er infrage, was quasi die Muttermilch der Sozialdemokratie ist: dass der soziale und wirtschaftliche Aufstieg durch Zugang zu Bildung möglich ist." Sarrazin bewege sich dicht an der Rassentheorie der Nazis.

Gideon Botsch, Politologe des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, attestiert Sarrazin rassistische Züge. Worauf Sarrazin das Gutachten des Wissenschaftlers wiederum "schleimig, unsauber und widerlich" nannte. So sprengt die Empörung der Berliner SPD alle Maßstäbe und hält sich auf hohem Niveau. "Mit jedem Zitat bettelt er um den Rausschmiss", sagen die Genossen. Auch Wowereit distanziert sich von ihm: "Manch eine Formulierung ist schlicht menschenverachtend. Er müsste endlich auch mal lernen, den Mund zu halten, aber danach sieht es nicht aus."

Sieben Stunden verteidigt Sarrazin seine Haltung vor dem Landesschiedsgericht der SPD. Zwei Berliner Ortsverbände wollen ihm eine schriftliche Verzichtserklärung abnötigen. Bis weit nach Mitternacht quält er die Genossen, weicht kein Jota von seinem Denken ab. Er will die Entscheidung erzwingen: Vertragt ihr einen, der die Wahrheit ausspricht, oder ist euch wichtiger, das Feigenblatt politischer Korrektheit über ihn und die Wahrheit zu decken?

Sarrazin hat einen Rechtsbeistand dabei. Einen wie ihn werfen sie nach 37 Jahren nicht so einfach hinaus. Um keinen Preis. Es sei denn um den politisch kostbarsten: Sarrazins vermeintliche Wahrheit. Wirft ihn der Landesverband raus, wird er das Bundesschiedsgericht anrufen.