Gunter Demnig hat in ganz Europa inzwischen 70 000 Stolpersteine verlegt. Foto: Tilman Baur

Gustav Friedrich Scheerer war bereits gezeichnet vom Ersten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg haben die Nazis ihn dann ermordet. Sein Schicksal war selbst bei seinen Hinterbliebenen lange nicht bekannt. Bis jetzt.

Degerloch - Ganz zum Ende ihrer Ansprache äußerte Franziska Kraufmann noch einen Wunsch. Sie wünsche sich, dass alle für eine Gesellschaft einträten, in der es für Menschen wie ihren Urgroßvater Platz gebe. Kraufmanns Initiative ist es zu verdanken, dass in Degerloch immerhin niemand das Schicksal ihres Urgroßvaters Gustav Friedrich Scheerer so leicht vergessen wird.

Seit Donnerstag, 15. November, erinnert ein Stolperstein an den bereits vom Ersten Weltkrieg gezeichneten, psychisch kranken Mann, den die Nationalsozialisten dann am 23. August 1940 im Rahmen ihres „Aktion T4“ genannten Euthanasieprogramms in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordeten.

Hass werde gerade wieder salonfähig

Keine fünf Minuten brauchte der Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig, um den Stein im Bürgersteig direkt vor dem Wohnhaus an der Großen Falterstraße 13 einzulassen und zu befestigen, dem letzten Wohnort Scheerers. Wilma Heuken von der Stolperstein-Initiative begleitete die Zeremonie auf dem Akkordeon.

Die Erinnerung sei heute besonders wichtig, denn Hass werde gerade wieder salonfähig, sagte Franziska Kraufmann im Rahmen der feierlichen Zusammenkunft. Durch die Beschäftigung mit dem Schicksal ihres Urgroßvaters seien viele Puzzleteile zusammengekommen, auch wenn sich sein Leben noch immer nicht lückenlos nachvollziehen lasse.

Er sei als schwieriger Mensch bekannt gewesen

Die 36-Jährige äußerte sich nachdenklich im Hinblick auf die eigene Familiengeschichte. „Ich bin auch heute noch davon betroffen, wie das Schicksal meines Urgroßvaters in der eigenen Familie in Vergessenheit geraten konnte“, sagte sie. Vielleicht sei Scham die Ursache dafür, vielleicht liege es aber auch in der Persönlichkeit begründet: Gustav Friedrich Scheerer sei als schwieriger Mensch bekannt gewesen, als einer, „der mit jedem Händel gesucht hat“.

Harald Habich von der Initiative Stolpersteine für Stuttgart betonte die Bedeutung der Gedenksteine: Sie erweiterten die öffentliche Wahrnehmung und Würdigung der NS-Opfer. Er erinnerte daran, dass Patienten in Grafeneck von Ärzten ermordet wurden, die für den Schutz der Kranken verantwortlich waren. Bis zur Jahrtausendwende hätten weder Ärzte noch Wissenschaftler Interesse an einer Aufklärung der Euthanasiemorde gehabt und hätten diese als „Tötungen“ abgetan. Das habe sich mittlerweile geändert.

Die Degerlocher Bezirksvorsteherin Brigitte Kunath-Scheffold äußerte Hochachtung vor der Leistung Gunter Demnigs. Er hat bislang mehr als 70  000 Stolpersteine in ganz Europa verlegt. „Ich wünsche mir, dass viele Menschen über diesen Gedenkstein stolpern und von diesem Schicksal berührt werden“, sagte Brigitte Kunath-Scheffold.

Geplant ist eine Online-Karte aller Stolpersteine

Im Stadtbezirk Degerloch gibt es bislang knapp 30 Stolpersteine. Am Rande der Veranstaltung berichtete Helmut Doka von der Degerlocher Geschichtswerkstatt, dass der Verein eine öffentlich einsehbare Karte plane, auf der die Degerlocher Stolpersteine verzeichnet sind.

Auch Schulklassen des Degerlocher Wilhelms-Gymnasiums und der Fritz-Leonhardt-Realschule besuchten die Zeremonie. Auf der Internetseite des WG haben die Schüler Informationen über das Schicksal Gustav Friedrich Scheerers und über die Tötungsanstalt Grafeneck zusammengetragen. Über einen QR-Code, der bald in der Nähe des Steins hängen soll, können Passanten diese Informationen künftig auch direkt mit ihrem Smartphone abrufen.