Wer sich bei Marianne Vogler (l.) für den Frühling eindeckt, bekommt ein Gratis-Schwätzchen obendrauf. Foto: Judith Sägesser

Wer nicht in dem Plieninger Viertel wohnt, der kennt es wohl nur als Abkürzung. Anlass für einen Streifzug.

Plieningen - Das Steckfeld ist aus dem Winterschlaf erwacht. Die Frühlingssonne hat die Kinder auf die Straße gelockt. Es war bestimmt nicht ohne, die Kreideschlangen auf den langen Gehweg zu malen. Doch der kleine Künstler hat sich nicht verdrießen lassen und immer weitergemacht. Gleich daneben sind andere durch Himmel und Hölle gehüpft.

Das Lachen ist noch zu hören, obwohl die Kinder längst heimgelaufen sind. Nur zwei Jungen sind geblieben, sie rollen Plastikkugeln über die Bocciabahn. Ein paar Straßen weiter steht Gerd Hütter am Gartenzaun und plaudert mit der Nachbarin. Die Märzenbecher wiegen sich im lauen Lüftchen, und Hütter hat gesagt: Wenn einer etwas übers Steckfeld erzählen kann, dann sei das der Martin Selje.

NS-Vergangenheit

Es ist einer jener Nachmittage, an denen man nicht so recht weiß, ob man eine Jacke brauchen wird. Also hat sich Martin Selje eine unter den Arm geklemmt. Dann geht es durch eine Siedlung, die er fast so gut kennt wie sein Wohnzimmer. Selje lebt an der Strebelstraße. Hier ist er geboren, und hier will er alt werden. Nur 15 Jahre war er weg, Jahre, die er seine Sturm- und Drangzeit nennt.

Martin Selje ist 64 Jahre alt. Doch er sieht die Straßen auch mit Kinderaugen. Er riecht immer noch die Ziegen der Nachbarn. „Die haben sie im Haus gehalten“, sagt er. Heute stehen die Zimmer leer, das Haus schreit nach einem neuen Anstrich. Drinnen gibt es nicht einmal ein Bad. Das Doppelhaus, in dem nur noch auf einer Seite Leute wohnen, war das erste Haus an der Strebelstraße, damals, als es Mitte der 1930er-Jahre mit dem Steckfeld seinen Anfang nahm. Damals hieß die Strebelstraße übrigens noch Horst-Wessel-Straße, sie ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg umgetauft worden. Der Grund: Horst Wessel war als SA-Sturmführer in die deutsche Geschichte eingegangen.

Wiesen und Obstbäume, so weit das Auge reichte

Die Geburtsstunde des Plieninger Ortsteils war kein Zufall. Dafür gruppieren sich die Häuser zu gewollt um die ersten drei Straßen. An der Strebel-, der Wrangell- und der Blumhardtstraße haben damals die ersten Bewohner gesiedelt. Der Untergrund war sumpfig, doch ein paar Plieninger waren mutig genug, es trotzdem zu wagen. Das war eine Zeit, in der das Steckfeld vor allem eines war: Natur pur, da waren Wiesen und Obstbäume, so weit das Auge reichte.

Heute gehört das Gebiet zu den begehrten Wohnlagen Stuttgarts. Derzeit leben dort 2150 Menschen. Zehn Minuten zum Flughafen, zehn Minuten zur Autobahn, zehn Minuten in den Talkessel. Doch wer hier nicht lebt, der kennt das Steckfeld wohl höchstens als willkommene Abkürzung, wenn er von Möhringen nach Birkach unterwegs ist. Dann geht es mit dem Auto die Steckfeldstraße entlang, vorbei an den Häuserzeilen aus der Adenauer-Zeit. Manche scheinen seit den fünfziger Jahren keinen Handwerker mehr gesehen zu haben.

Schicke Wohnmöglichkeiten

Wegen Häusern wie diesen wirkt das Steckfeld auf den ersten Blick eher zweckmäßig als hübsch. Viele Fassaden sind fahl, von manchen blättert der Putz. Doch wenn einer sagt, das Viertel wirke trist, wird Martin Selje zum hartnäckigen Gegensprecher. „Ich sehe das Steckfeld anders“, sagt er dann. Es ist der Ort, an dem er viele glückliche Kindertage verbracht hat. Etwas ganz Besonderes eben.

Außerdem wird das Steckfeld zurzeit hier und dort schön gemacht. An der Karlshofstraße beispielsweise hat die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) vor wenigen Jahren rund 50 Sozialwohnungen abgerissen, um 76 schicke Apartments zu bauen. Und vorne an der Steckfeldstraße, der kleinen Hauptstraße des Viertels, verwandeln sich die Adenauer-Bauten derzeit in ansehnliche Mehrfamilienhäuser.

Mehrere Generationen im Gartenbau

Bei Frau Vogler hat die Saison begonnen. Die 61-Jährige hat sich am Morgen die grüne Schürze um den Bauch gebunden. Die Stiefmütterchen gibt es heute für 70 Cent das Stück, aber Frau Vogler hat auch Primeln und Orchideen im Angebot. Wer sich bei ihr im Gewächshaus für den Frühling eindeckt, bekommt ein Gratis-Schwätzchen obendrauf.

Ihre Hände erzählen, was sie die vergangenen vier Jahrzehnte getan hat. Vier Jahrzehnte, „wo ist nur die Zeit hin?“. Es klingt, als würde Marianne Vogler die Blumen fragen. Sie hat einen Steckfelder geheiratet, mit dem Betrieb hat die Familie ihres Mannes 1955 begonnen. Anfangs gab es zwei Treibhäuser, jetzt sind es neun. An einer weißen Backsteinwand hängt eine Ahnengalerie. Die Fotos zeigen die Voglerschen Generationen bei der Pflanzarbeit.

Viele Geschäfte sind Geschichte

Die Gärtnerei Vogler war einer der ersten Betriebe im Steckfeld. Nachdem immer mehr Häuser an den Straßen im Norden Plieningens entstanden waren, vermehrten sich auch die Geschäfte. Es muss einmal sehr lebhaft gewesen sein in dem Viertel, irgendwann gab es alles, was der Mensch im täglichen Leben braucht: einen Metzger, einen Bäcker, eine Bank, einen Kurzwarenhandel, eine Drogerie, einen Tante-Emma-Laden, einen Friseur, einen Getränkemarkt und einen Milchladen. Und einst produzierte die Fabrik Nägele im Steckfeld Reißverschlussmaschinen.

Sogar ein Café hatte sich an der Karlshofstraße angesiedelt. Martin Selje zeigt auf den Laden und erzählt, dass sich die Steckfelder da gern zum Kaffeeklatsch getroffen haben. Das Café ist Geschichte. Heute begrüßt einen stattdessen Pünktchen, eine Dalmatiner-Dame. Ihr Frauchen bietet hinter den Schaufenstern Echthaarverlängerungen an. Für Menschen.

Junger Unternehmen versucht sein Glück

Auf seinem Weg entlang der Steckfeldstraße trifft Martin Selje eine Bekannte. „Wie geht’s der Mutter?“, fragt er. Es werden ein paar Sätze gewechselt und dann „tschüss, mach’s gut“. Selje steht vor einem Haus, an dessen Stelle früher die Hütte des Volksschullehrers Kächele gestanden hatte. Die Leute erzählten sich, er sei wegen seiner KPD-Mitgliedschaft im Dritten Reich vom Schuldienst suspendiert worden. Kächele soll seine Brötchen fortan mit Geigen- und Nachhilfeunterricht verdient haben. Auf diesem Grundstück hatte übrigens einst der allererste Steckfeldbewohner gesiedelt. Das war ein jüdischer Kunstmaler, der zurückgezogen lebte.

Vielleicht kommt wieder mehr wirtschaftliches Leben ins Steckfeld. Seit Anfang März versucht der 24-jährige Kadir Kücük sein Glück an der Osumstraße. In seinem Laden, der früher schon mal einer war, bietet der Deutsch-Türke vor allem Früchte und Gemüse an. Die Leute haben sich gefreut, ob sie auch einkaufen kommen, wird sich zeigen. „Samstags ist viel los“, sagt Kücük. Martin Selje wird wiederkommen, doch heute braucht er nichts, er wollte einfach nur kurz „hallo“ sagen. Jetzt geht es in den Besen.

Besenwirtschaft im Wohnzimmer

Besenwirtschaft riecht nach Tradition. Martin Selje hat zig Anekdoten von früher auf Lager, aber die Besenwirtschaft kommt niemals darin vor. Was daran liegt, dass die Ungers den Reisigbesen erst seit 2008 in den Strauch vor ihrem Haus hängen.

Hängt der Besen draußen, heißt das, die Familie Unger hat mal wieder ihr Sofa in den ersten Stock geschleppt, damit die ganzen Tische und Stühle Platz haben. Besenzeit bedeutet, dass Fremde und Bekannte in der guten Stube Platz nehmen, gleich neben dem Familienfernseher und dem Ölschinken an der Wand. Die Gäste trinken dann Cannstatter Trollinger und Apfel-Birnen-Most aus Henkelgläsern. Dazu gibt’s Hausmannskost. Renate Unger kocht allein für alle, deshalb kann die Hausherrin nur kurz reden.

Ihr Großvater hat das Grundstück im Steckfeld anno 1890 gekauft und Apfel- und Birnbäume gepflanzt. „Es war der Sommersitz“, sagt Renate Unger. Sie erinnert sich noch an die Regentage, an denen sie als Kind auf die nassen, unendlich weiten Wiesen geschaut hat. „Das war wie ein Paradies“, sagt sie. Dann sind die Häuser gekommen – und mit ihnen die Geschichten.