Zapata-Gäste und Zapata-Macher im Jahr 1995, bevor die Abrissbirne kam. Mit dabei: der Schauspieler Ben Becker (vorne rechts mit Sonnenbrille). Foto: Marcelo Lagos

Das Zapata war Stuttgarts originellste Gastro-Idee des alten Jahrtausends, von der Documenta als Kunst geadelt. Mitgründer Marcelo Lagos, heute Landwirt bei Hamburg, spricht in der Challenge über den rebellischen Geist eines Phänomens.

Stuttgart - „Das Zapata war ein Ort von knisternder Erotik, auf der Suche nach sozialer Emanzipation.“ So hat der Ur-Grüne Rezzo Schlauch einmal den 1994 eröffneten Latino-Club beschrieben, dessen Stammgast er war. Für die wohl größte Nachtwanderung in der Geschichte der Stadt sorgte der Treff in einer zum Abriss freigegebenen Fabrik im Südmilchareal. Postkarten dienten als Währung, mit der man seine Caipis bezahlte – ein Trick, weil zunächst die Konzession fehlte. Mit den Einnahmen wurden Künstler unterstützt. Im Zapata hatten viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter den Caipirinha kennengelernt, den es Jahre später bei jedem Stadtfest geben sollte.

Rezzo Schlauch brachte immer wieder Joschka Fischer mit

Der Schauspieler Ben Becker war häufig da, auch Moderator Alfred Biolek. Immer mal wieder brachte Rezzo Schlauch einen Partyfreund mit: Joschka Fischer, der spätere Außenminister, fühlte sich wohl im Künstlerkollektiv unweit des Hauptbahnhofs, wo man freiheitliches Denken, rebellischen Geist und gemeinschaftliches Arbeiten leben wollte. Jahre später gab’s ein Wiedersehen. Marcelo Lagos, Mitgründer eines gastronomischen Phänomens und einer künstlerischen Selbsthilfe, war nach dem Abriss des ersten Zapata (später gab es eine Fortsetzung mit demselben Namen ohne ihn im Wizemann-Areal) nach Berlin gezogen. Dort wurde er Fischers Nachbar.

Der Grüne erinnerte sich gern an seine Nächte in Stuttgart und lud den Südamerikaner wie einen alten Freund zu sich ein. Zu einem Fest brachte Filmemacher Lagos eine junge Filmstudentin mit – sie ist heute die Frau des früheren Vize-Kanzlers. Ohne das Zapata und ohne seine Freundschaft mit Lagos hätte er die heutige Filmproduzentin und Drehbuchautorin Minu Barati vielleicht gar nicht kennen gelernt.

Dreharbeiten in der „Nordbronx“ von Stuttgart

Ende der 1970er Jahre war Marcelo Lagos vor dem Diktator Pinochet geflohen. Zwei Jahre saß er in Argentinien im Gefängnis. Gestrandet ist er im Süden Deutschlands. 1995 drehte er seinen Film „Stuttgart – mi amor“, eine poetische Stummfilmreise in Schwarzweiß. Das Team streifte mit der Kamera auf der Suche nach magischen Locations durch die Stadt und entdeckte im Niemandsland hinterm Hauptbahnhof eine leer stehende Fabrik. Aus dem Zusammensitzen nach Drehschluss in der „Nordbronx“, wie der 1956 geborene Lagos den Ort nannte, wurde immer mehr. Es entstand ein gastronomisches Phänomen, das den Namen Zapata erhielt, benannt nach dem mexikanischen Revolutionär.

Seine Liebe zu Stuttgart kam im Film als Sehnsucht daher. Vergeht die Liebe, wenn die Sehnsucht gestillt ist? Nein, nicht alles ist vergangen. „Es gibt schwierige Lieben“, sagt Marcelo Lagos heute, da er auf einem Bauernhof in der Nähe von Hamburg lebt. Die schönsten Klos eines deutschen Clubs hat er im Zapata gebaut – und wusste doch, dass der Abriss bevorstand. „Das Ende kam schnell“, erinnert er sich, „Spekulanten und Stuttgart 21 drängten uns aus der Gegend, und der Weltgeist wanderte aus.“ 1995 machte die Abrissbirne ein rebellisches Experiment platt.

Sehen so moderne Märchen aus?

Das Leben des Chilenen hat zahlreichen Wendungen genommen. Ist es ein Zufall, dass der frühere Flüchtling, der mit nichts außer seinen Kleidern nach Stuttgart gekommen war, heute in einem Gutsherrenhaus im Norden Deutschlands lebt? Sehen so moderne Märchen aus? Marcelo ist Mitglied eines landwirtschaftlichen Kollektivs. Seine Frau hat den Hof geerbt. Im Zapata ging er um 5 Uhr ins Bett – heute mit Ü 60 steht er um 5 Uhr auf, um in dem Demeter-Hof seine Arbeit zu tun. Er pendelt zwischen Hamburg und Berlin, wo er weiterhin eine Wohnung hat – für die künstlerische Seite seines Lebens.

Woran er sich besonders gern an seine Stuttgarter Zapata-Zeit unweit der Gleisanlagen erinnert? Es sind so viele Geschichten, die er nie vergessen wird. „Bei den Geräuschen von Zügen war es gut, die Augen zu schließen“, sagt er. Dies hat Marcelo schon von seinem Großvater, einem Eisenbahner, gelernt, der 102 Jahre alt geworden ist: „Du hörst Worte, die Räder auf die Gleise hämmern und mit hypnotischer Kraft wiederholen.“ Viele Geschichten kursieren seit der Zapata-Zeit bei Club-Veteranen der Stadt. Für die Stay-at-home-Challenge in der Corona-Krise erzählt der chilenische Künstler und Landwirt nun erstmals Erlebnisse, die er bisher für sich behalten hat. Etwa davon, als plötzlich die GSG 9 angsteinflößend im Zapata stand, was sich als Fehlalarm erwies.

Was dem Stuttgarter Polizeichef so gut gefiel

Eine dieser Geschichten handelt vom damaligen Polizeichef der Stadt. Der kam einmal mit mehreren Beamten, weil er nicht sicher war, ob alles legal zuging mit der Zapata-Bar. Marcelo Lagos nahm ihn mit in die Katakomben runter, wo Künstler ausstellten. Dem Polizeichef gefielen die Werke gut. Noch mehr hatten es ihm die Gänse im Hof angetan, die das Kollektiv hielt. Später kam der oberste Dienstherr der Stuttgarter Ordnungsmacht, ein Tierfan, zivil und privat wieder, um sich die Gänse noch einmal genauer anzuschauen.

Viva Zapata! Stammgast Rezzo Schlauch hat in Havanna gesagt, als dort der Film „Stuttgart mi amor“ vorgeführt worden ist: „Das Zapata wirkt noch in Stuttgart, auch wenn es abgerissen ist.“