Lucas Fischer turnt am Beckenrand des Schlosspaltz-Brunnens. Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Auf dem Schlossplatz hängt er sich als Fahne an einen Masten und turnt auf dem Beckenrand des Brunnens. Im Leben von Lucas Fischer ist manches ein wenig anders. Der frühere Spitzenturner zeigt, wie man sich nach Abstürzen hochkämpft.

Stuttgart - „Lucci“, wie ihn seine Familie und seine Freunde daheim in der Schweiz nennen, hat in Stuttgart keinen Hut dabei. Hätte er einen auf den Schlossplatz gelegt, hätte sich dieser rasch mit Münzen gefüllt. Die Passanten schauen und staunen, weil der junge Mann mit dem gelockten Schopf und den Löchern in den Jeans artistische Übungen für den Zeitungsfotografen vorführt. Die meisten Beobachter des luftigen Schauspiels dürften nicht wissen, wer da vor der Kamera so faszinierend agiert. In der Schweiz dagegen ist Lucas Fischer fast so bekannt wie das Bergmädchen Heidi.

„Lucci“ war ein „Jahrhunderttalent“, wie man in den Zeitungen lesen konnte, ein Spitzensportler aus einer großen Turnerfamilie, mit dem die Nation gezittert hat. 2013 wurde er Vize-Europameister am Barren, was bis heute als Sensation gilt. Denn drei Jahre davor war bei Lucas Fischer Epilepsie diagnostiziert worden. Nie zuvor war ein Turner mit dieser Krankheit so weit gekommen.

„Tigerherz“, so heißt das Buch, das er mit der Autorin Katrin Sutter über sein bereits in jungen Jahren viel zu aufregendes Leben geschrieben hat. Es handelt vom Fall in ein dunkles Loch, als die Epilepsie, die neurologische Erkrankung, an der etwa ein Prozent der Menschen leidet, all seine Träume auszulöschen schien. Depressionen hatten ihn im „tiefsten Schwarz“ eingesperrt, wie es in einem seiner Songs heißt, die er in seiner zweiten Karriere als Sänger nun schreibt. Sein Buch handelt von einem Herz, das sich den Tiger zum Vorbild nimmt, um mit Raubkatzenkraft ganz neuen Träumen zu folgen.

Fischer ist Kandidat in der RTL-Show „Das Supertalent

Auf Bestsellerlisten finden sich häufig Geschichten von gefallenen Menschen, die sich „ins Leben zurückkämpfen“, wie auf dem Cover gern steht. Leser freuen sich, wenn dies gelingt. Ihre eigenen Probleme wirken dann gleich viel kleiner. Und sie freuen sich noch mehr, wenn einer beim Comeback auf ganz neuem Terrain so sympathisch ist wie der junge Schweizer.

Für vier Tage ist Lucas Fischer nun in Deutschland gewesen, um sein Buch vorzustellen, das in seiner Heimat ein Besteller ist, um vor Epileptikern zu sprechen, seine Stuttgarter Freunde zu besuchen und sich das Musical „Bodyguard“ im SI-Centrum anzuschauen. Zu den Deutschen zieht es den 27-Jährigen ohnehin immer öfter – als Kandidat in der aktuellen Staffel der RTL-Show „Das Supertalent“.

Die „Supertalente“ von „Lucci“ sind die Artistik und der Gesang. In Varieté-Shows tritt Fischer auf, hat im Team sogar beim Zirkusfestival in Monaco den bronzenen Clown gewonnen. Als Musicalsänger ist er im Sommer bei den Thunerseespielen im Musical „Cats“ in die Rolle der Katze Tumblebrutus geschlüpft und schreibt Lieder über Tigerkräfte, über Träume und Stolz.

Keine Angst vor einem weiteren Epilepsie-Anfall?

Nachdem die Fotos auf dem Schlossplatz gemacht sind, sitzen wir im Cube des Kunstmuseums direkt an der Glaswand, blicken auf Stuttgart hinab. Verzückt schaut der junge Schweizer nach draußen. Lucas Fischer kann das Leben wieder genießen, die Schönheiten wahrnehmen, die sich wie hier – leicht erhaben über der Stadt – auftun.

Hat er keine Angst vor einem Epilepsie-Anfall? „Seit zweieinhalb Jahren habe ich keinen mehr gehabt“, sagt er. Die Medikamente tun ihre Wirkung. Er weiß, dass er manchen Dingen ausweichen muss – etwa Stroboskop-Lichtern bei Konzerten, die einen Krampfanfall auslösen können.

20 Jahre alt war er, als es zum ersten Mal in seinem Gehirn zu einer Explosion kam. Aus heiterem Himmel verkrampfte er sich, biss sich dabei fast die Zunge ab, kam mit dem Notarzt in ein Krankenhaus, ohne zunächst zu wissen, was mit ihm geschehen war.

Heute weiß er: Epilepsie beruht auf einer „Fehlschaltung“ im Gehirn. Zur Bewusstlosigkeit kann dies führen, meist zur Verwirrung. Viele Patienten klagen danach über extrem starken Muskelkater, weil ihr Körper eine solche Muskelanspannung nicht kennt. Die Überaktivität der Muskeln beeinflusst vegetative Funktionen. Der Speichelfluss wird stärker. Es verwirbelt den Speichel im Mund, was dann wie Schaum aussieht.

„Neue Kraft wird aus Leid gemacht“

Wenn Lucas vor Eltern von jungen Epileptikern spricht, bittet er sie, ihre Kinder nicht aus Angst einzuengen. Sein Beispiel zeige, wie weit man mit dieser Krankheit kommen könne. Nicht an der Epilepsie lag es, warum Fischer sich vom Spitzensport verabschieden musste. Nach Operationen und Verletzungen hörte er 2015 als aktiver Turner auf – und seine Karriere im Showbusiness begann. Als Motivator wird er darüber hinaus bei Managerseminaren gebucht.

„Neue Kraft wird aus Leid gemacht“, heißt es in seinem Lied „Tigerherz“. Und weiter: „Der Kampf mit mir selbst ist das Zeichen für einen Kämpfer.“ Wenn eine Tür sich schließt, muss man nur den Zugang zur nächsten finden. „Lucci“ macht es vor: Manchmal führen Umwege zum Glück.