Auf dem SPD-Parteitag in Bonn haben sich Befürworter und Gegner der großen Koalition eine emotionsgeladene Auseinandersetzung geliefert. Foto: dpa

Hopp oder top? Auf dem Parteitag in Bonn präsentiert sich eine zerrissene SPD. Eine klare Tendenz für oder gegen eine große Koalition zeichnet sich in der Debatte zunächst nicht ab. Vor der Abstimmung mit weitreichenden Folgen steht es unentschieden.

Bonn - Auf dem SPD-Parteitag in Bonn haben sich Befürworter und Gegner der großen Koalition eine emotionsgeladene Auseinandersetzung geliefert. SPD-Chef Martin Schulz appellierte in einer kämpferischen Rede eindringlich an die Delegierten, für Koalitionsverhandlungen mit der Union zu stimmen. Es wäre „fahrlässig, diese Chance nicht zu ergreifen“, rief er am Sonntag den knapp 600 Delegierten zu.

Sein schärfster Widersacher Kevin Kühnert appellierte an die Genossen, trotz weitreichender Folgen nicht vor einem Nein zurückzuschrecken. Sein Leitspruch für die Abstimmung: „Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.“ Damit spielte er auf eine Aussage des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt an, der den Juso-Widerstand als „Zwergenaufstand“ eingestuft hatte.

Abstimmung am Nachmittag

Kühnert bekam deutlich lauteren Applaus als Schulz, der aber nach knapp einer Minute von der Parteitagsleitung unterbrochen wurde. In der Debatte ergriffen zunächst etwa genauso viele Gegner wie Befürworter das Wort. Die Befürworter kamen überwiegend aus der Parteiführung. Fast alle prominenten Sozialdemokraten sind für eine große Koalition. Noch am Nachmittag stimmen die Delegierten über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ab.

„Wir entscheiden heute letztlich auch darüber, welchen Weg unser Land und Europa gehen“, sagte Schulz. Die Partei müsse „ohne Angst, ohne Scheu“ Verantwortung übernehmen. „Ich bin davon überzeugt, dass der mutige Weg der richtige ist.“

Weitere Verhandlungserfolge versprochen

Für den Fall von formellen Gesprächen mit der Union versprach Schulz weitere Verhandlungserfolge der SPD. Unter anderem in der Gesundheitspolitik seien Ergänzungen des Sondierungspapiers nötig. „Wir werden konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin verlangen - und wir werden sie durchsetzen“, versprach er. Gemeint ist die unterschiedliche Behandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten. Zudem müssten befristete Arbeitsverhältnisse künftig die Ausnahme sein. Als dritten Punkt versprach Schulz eine weitergehendere Härtefallregel für den Familiennachzug von Flüchtlingen. „Da muss sich die Union bewegen. Und ich sage Euch ganz klar: Die Härtefall-Regel wird kommen.“

Die Parteispitze hat diese drei Forderungen in ihren Antrag für die Abstimmung über die Koalitionsverhandlungen eingebaut. Die Union ist aber strikt gegen grundsätzliche Änderungen der 28-seitigen Sondierungsvereinbarung, auf die sich beide Seiten am 12. Januar verständigt hatten.

Aufbruch in der Bildungspolitik

Als zentrales Projekt einer großen Koalition nannte Schulz einen „Aufbruch in der Bildungspolitik“ und hob erneut die Reform der Europäischen Union hervor. Er betonte, dass die SPD trotz ihres schlechten Wahlergebnisses von gut 20 Prozent eine Regierung auf Augenhöhe mit der Union anstrebe. „Die SPD muss und wird sichtbar, hörbar und erkennbar sein.“ Sie „muss eine SPD-Regierung sein“.

Schulz betonte, dass es vor dem Hintergrund, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen eine Minderheitsregierung ist, letztlich nur zwei Optionen gibt: „Es geht um die Frage: Koalitionsverhandlungen oder Neuwahlen.“

Kühnert sprach von einer „Vertrauenskrise“ in der Partei und betonte, dass der Parteitagsbeschluss für oder gegen ein Bündnis mit der Union so oder so schmerzhafte Nachwirkungen haben werde. „Es wird wehtun“, sagte er. „Wir werden Menschen vor den Kopf stoßen.“

Die Möglichkeiten gemeinsamer Projekte von Union und SPD sieht der Juso-Chef als begrenzt an. Nach acht Jahren großer Koalition in den vergangenen zwölf Jahren seien „wesentliche Gemeinsamkeiten aufgebraucht“.

Kein selbstbewusster Koalitionspartner

Die Kehrtwenden der SPD, die zunächst zweimal eine Neuauflage der GroKo ausgeschlossen hatte, hätten Vertrauen gekostet - nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Partei, sagte Kühnert. Zudem sei die SPD oft wie ein Pressesprecher der Koalition aufgetreten, nicht wie ein selbstbewusster Koalitionspartner.

Neben Schulz warben unter anderen die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer und der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Michael Groschek für eine große Koalition. Beide hatten zunächst zu den Skeptikern gezählt. Die Sondierungen hätten gezeigt, „dass wir mit sozialdemokratischen Herzensthemen viel bewegen können“, sagte Dreyer.

Bei einem Ja könnten die Verhandlungen für eine Neuauflage der großen Koalition noch in der kommenden Woche beginnen. Sollten die Genossen dagegen mehrheitlich Nein sagen, wäre nach dem Aus für eine Jamaika-Koalition auch der zweite Anlauf zur Regierungsbildung gescheitert. Die SPD würde bei einem Nein wahrscheinlich in eine tiefe Krise stürzen. Ein Rücktritt von Parteichef Schulz gilt für diesen Fall als wahrscheinlich.