Martin Schulz nimmt Kurs auf die politische Mitte. Noch immer macht ihm zu schaffen, dass er sich nicht früher festlegte. Foto: dpa

So unterschiedlich der Franzose Emmanuel Macron und der Brite James Corbyn sein mögen, eines haben sie gemein: sie sind glaubwürdig, weil sie Kurs halten. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz muss zeigen, dass er aus ähnlich hartem Holz geschnitzt ist.

Berlin - Noch knapp 100 Tage bleiben Martin Schulz bis zur Wahl. Rund 14 Prozentpunkte liegt die SPD aktuell hinter der Union, das ist ziemlich genau jene Lücke, die Sigmar Gabriel bei seinem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur Martin Schulz hinterlassen hat. Alles vergebens also? Gemach. Die Wähler sind launisch. 2005 büßte Angela Merkel gegen den damaligen Kanzler Gerhard Schröder in den letzten 100 Tagen vor der Wahl fast 20 Prozentpunkte ein und rettete sich mit hauchdünnem Vorsprung in die erste große Koalition. Man kann hohe Wetten darauf abschließen, dass die Kanzlerin deshalb die Letzte ist, die Schulz abschreiben würde.

Im Lager des Herausforderers würden sie Merkel gern den Gefallen tun, ihrer Skepsis gegenüber verfrühten Prognosen gerecht zu werden. Um das zu schaffen, wäre es allerdings gut zu verstehen, was da passiert ist in den vergangenen Monaten. Weder erschließt sich den Schulz-Beratern so recht, weshalb die Werte nach oben schossen, noch, warum es so schnell wieder steil bergab ging.

Fast schon wehmütig blicken die Sozialdemokraten nach Frankreich und Großbritannien, wo Emmanuel Macron und Jeremy Corbyn in einem Fall einen triumphalen, im anderen einen beachtlichen Erfolg erzielten. Schulz lässt keine Gelegenheit ungenutzt, beiden gleichermaßen überschwänglich zu gratulieren, brüstet sich damit, wie gut er sich mit beiden verstehe und lässt seine Entourage prüfen, ob es Möglichkeiten der Begegnung geben kann. Aber allein schon die Selbstverständlichkeit, mit der er Macron und Corbyn bisher ein und derselben Parteienfamilie - der sozialdemokratischen - zuordnet, ist irritierend und aufschlussreich zugleich. Denn wer mit beiden politisch gut Freund ist, der blinkt an entscheidenden Weggabelungen in entgegengesetzte Richtungen. Solche Irritationen sind Teil des Problems, mit dem Schulz bis zur Wahl fertig werden muss.

Der Goldstandard der Politik

Der sozialliberale Macron würde wohl nie mit Labour-Chef Corbyn gemeinsame Sache zu machen. Der eine ist überzeugter Europäer, der andere nicht. Der eine will Sozialreformen durchsetzen, der andere ist linker Traditionalist. Was beide aber schon gemein haben, ist die Geradlinigkeit, mit der sie ihren Kurs verfolgen. Sie wirken glaubwürdig. Und Glaubwürdigkeit ist der Goldstandard der Politik.

Was heißt das für Martin Schulz? Der steckt in dem Dilemma, dass die SPD nur zu gern ihr Herz für Typen wie Corbyn schlagen ließe. Schulz aber steht Macron viel näher. Er muss deshalb, wie jeder Sozialdemokrat, der Kanzler sein will, klären, ob er im Zweifel eher seinen Überzeugungen folgen oder vor allem den Sehnsüchten der Partei zu Diensten sein will. Beides darf sich nicht völlig ausschließen, war aber in der SPD noch nie zur Deckung zu bringen.

Dass er dazu bisher nur bedingt in der Lage war, hat nicht allein er zu verantworten. Es war Sigmar Gabriel, der den gesamten Apparat der SPD über Monate hinweg auf seine Kandidatur vorbereitet hatte und dann im letzten Moment beiseitetrat. Schulz musste kalt starten. In europäischen Fragen hatte er von Anfang an Kanzlerformat, aber in der Sozial- und Innenpolitik war er vielleicht informiert, aber zunächst ohne klar konturierten Gestaltungswillen. Mehr als die Forderung nach Gerechtigkeit und eine hastig vorgetragene Korrekturskizze der Agenda 2010 waren anfangs nicht zu hören. Er ließ sich eilig von der Partei Programmbausteine zuliefern und hörte auf den Rat vieler. Aber der Hype um seine Person hatte nun mal vor allem damit zu tun, dass der ehemalige Präsident des EU-Parlaments unverbraucht und unabhängig wirkte, weder kontaminiert durch die große Koalition, noch durch übermäßigen sozialdemokratischen Stallgeruch. Dann gab er auch noch der Versuchung nach, kurz mit Rot-Rot-Grün zu liebäugeln, einem Bündnis, das angesichts der brachialen Europa-Kritik einer Sahra Wagenknecht für ihn ein politisches Kapitalverbrechen an der eigenen Glaubwürdigkeit wäre. Aus dem Heilsbringer wurde in diesem Moment ein Machtstratege. Er wurde gewöhnlich.

Gerhard Schröder als Einheizer

Schulz hat darauf reagiert. Die Konturen des Programms sind inzwischen klar umrissen, er kann sie, anders als vor vier Jahren Peer Steinbrück, als Kandidat verkörpern. Schulz zielt auf die politische Mitte, europäisch, mit einem starken Schwerpunkt auf Bildung, Forschung, Investitionen. Er schwimmt sich frei und man wird schon auf dem Parteitag am Wochenende sehen, ob die Parteilinke ihm das durchgehen lässt. Vorsichtshalber hat er sich Hilfe organisiert. Altkanzler Gerhard Schröder soll auftreten. Auch das ein deutlicher Fingerzeig.

Jene gut 30 Prozent, die zwischenzeitlich in Umfragen Schulz mit Vorschusslorbeeren bedacht haben, wissen also langsam, was sie aufgetischt bekämen, wenn sie Schulz wählten. Schulz wird begreifbar, so wie es Macron und Corbyn auf ihre jeweils ganz eigene Art längst sind. Ob das reicht, wird sich zeigen, aber die SPD wäre gut beraten, ihm Spielraum lassen. Ein Blick nach Frankreich dürfte genügen, um zu erkennen, was der Partei sonst blühen kann. Die „Partie socialiste“, Schwesterpartei der SPD, landete zuletzt bei unter acht Prozent.