Alles so schön bunt hier: Die ständige Ablenkung durch Smartphone-Benachrichtigungen ist nicht nur am Arbeitsplatz ein Problem. Foto: ra2 studio/Adobe Stock

Apps und soziale Medien lenken uns permanent mit Benachrichtigungen ab. Künstliche Intelligenz könnte helfen, den Informationsfluss in geordnetere Bahnen zu lenken.

Stuttgart - Für manche Probanden des Forschers Martin Pielot war es eine wahre Befreiung, 24 Stunden lang alle Notifikationen auf ihren Smartphones auszuschalten – also jene kleinen Nachrichten, die neue Mails, Likes oder Posts und vieles mehr ankündigen. Schließlich beschweren sich immer mehr Menschen darüber, von Apps und sozialen Netzwerken abgelenkt zu werden. Klar ist, dass ihnen die wenigsten Nutzer widerstehen können. „Die Korrelation zwischen der Nutzungshäufigkeit der Notifikationen und erhöhtem Stress ist schon länger bekannt“, sagt Pielot, der für das spanische Telekommunikationsunternehmen Telefónica arbeitet. Aber hängt beides auch kausal zusammen? Die Studie deutet darauf hin: Auch wenn manche Sorge hatten, etwas zu verpassen, waren alle weniger gestresst und berichteten von einer höheren Produktivität.

Doch längst sind es nicht mehr nur die Benachrichtigungen an sich, die Nutzer mit raffinierten Formulierungen locken. Schließlich ist die Aufmerksamkeit hart umkämpft, immer mehr Apps wollen etwas von ihr abhaben, keiner will in der Masse untergehen. Deshalb machten sich die Anbieter verstärkt Gedanken um das richtige Timing, sagt Tadashi Okoshi von der Keio University in Tokio. „Früher in Zeiten von E-Mail-Newslettern war die Mittagspause ein guter Zeitpunkt“ – da hatten Büroarbeiter Zeit, sich um solche privaten Interessen zu kümmern.

Doch mittlerweile sei das Zeitraster, in dem sogenannte Breakpoints erkannt werden können, viel feiner, erklärt Okoshi. An einem Breakpoint wechselt der Nutzer von einer Tätigkeit zur nächsten – und das ist ein gutes Zeitfenster, um ihm Benachrichtigungen zu senden. „Zum Beispiel direkt nachdem er mit dem Senden von E-Mails fertig ist.“ Okoshis Studien zeigen, dass entsprechende Notifikationen häufiger und schneller angeklickt werden als andere und dass die Nutzer sich auch länger mit der betreffenden App oder Internetseite beschäftigen.

Gelangweilte Nutzer sind offen für vieles

Forscher nutzen inzwischen sehr diffizile Methoden, um herauszubekommen, was Nutzer gerade tun und ob sie anfällig sind für den Aufmerksamkeits-Angriff. Pielot beispielsweise untersucht, in welchem emotionalen Zustand Nutzer offen sind für Benachrichtigungen – und wie man diesen Zustand messen kann anhand der Daten, die ein Smartphone erhebt. Eine Studie zeigte in der Tat, dass ein angespannter Zustand dazu führt, dass Nutzer Notifikationen ignorieren. Waren sie hingegen eher gelangweilt, waren sie offen für vieles. „Es stellt sich also die Frage, ob man Langeweile erkennen kann“, sagt Pielot. Mit Langeweile korrelieren verschiedene Nutzungsdaten des Smartphones: häufiges Entsperren, viele geöffnete Apps, wenig Bewegung. Schließlich ließen die Forscher einen Algorithmus aus Nutzerbefragungen und der parallelen Auswertung der Smartphone-Daten lernen, wie sich Langeweile äußert. Die Treffsicherheit schwankt noch, doch sie ist stets besser als der Zufall. „So etwas ist noch nicht Praxis, aber das kommt in Zukunft“, ist Pielot überzeugt.

Der Kampf um die Aufmerksamkeit wird sich noch verschärfen, warnt Veljko Pejović von der University of Ljubljana: „Unternehmen haben kein Interesse daran, den Nutzer zu schonen.“ Auch Telefónica-Forscher Pielot stimmt zu: „Jeder versucht, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu ergattern. Man darf sich da keine Illusionen machen, Unternehmen wollen Gewinn machen, sie sind nicht einfach so menschenfreundlich.“ Und jeder Klick bringt Einnahmen.

Die Lösung liegt laut Pejović daher auf der Seite des Nutzers: ähnlich wie mit Spam-Filtern müssen wir uns künftig mittels technischer Kniffe dagegen wehren, zu viele Notifikationen zu bekommen. Schließlich liegt die Spanne, die ein Büroarbeiter ungestört am Stück arbeiten kann, laut einer Studie der University of California nur bei drei bis sechs Minuten. Dann wird er unterbrochen – entweder von einem Kollegen in der Tür oder einem Anruf – „oder in der Hälfte der Fälle durch Notifikationen“, sagt Pejović. Es mag sein, dass das einerseits unserem Drang nach Multitasking geschuldet ist, andererseits sind aber viele dieser Unterbrechungen vermeidbar – und kommen vor allem nicht freiwillig zustande.

Bedürfnis nach Unterbrechung und Zerstreuung

Doch es gibt dieses Bedürfnis nach Unterbrechung, nach Zerstreuung, sagt Pejović, „im EEG sieht man, dass etwas im Gehirn geschieht, kurz bevor wir uns selbst unterbrechen und beispielsweise schnell auf Facebook schauen“. Könnte eine smarte App das vorhersehen, könnte sie genau dann eine Notifikation zustellen. Das würde sogar kognitive Belastung sparen, denn Studien unter anderem der niederländischen University of Groningen zeigen in der Tat, dass externe Unterbrechungen weniger Rechenkapazität im Gehirn benötigen, als wenn ihr uns selbst unterbrechen. Würde uns unser Smartphone genau dann eine passende Unterbrechung anbieten, die obendrein inhaltlich interessant ist, wäre allen geholfen.

Pejović ist überzeugt, dass solche Systeme kommen, die nicht nur dank verschiedener Sensor- und Nutzungsdaten des Smartphones wissen, was wir gerade tun und wie offen wir für Benachrichtigungen sind, sondern auch mittels künstlicher Intelligenz lernen, was uns interessiert und was wir in der Vergangenheit eher ignoriert haben. „Das hilft uns dann, unsere Zeit optimal zu nutzen.“ Ein intelligentes Management der Nachrichten all jener Unternehmen, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen, könnte also durchaus wieder zu mehr selbstbestimmt verbrachter Zeit führen – ohne auf die Vorteile der Technik und wichtige Informationen verzichten zu müssen.

Machen soziale Netzwerke süchtig?

Debatte Häufig wird gesagt, soziale Netzwerke machten süchtig. Doch das Gefühl, etwas zu verpassen, beruht laut Telefónica-Forscher Martin Pielot eher auf der Erwartung des sozialen Umfelds, dass Nachrichten schnell beantwortet werden. „Das ist der soziale Druck, den Netzwerke wie Twitter und Facebook ausnutzen.“ Menschen sind heute daran gewöhnt, dass ihr Umfeld stets erreichbar ist.

Technik Sind Nutzer erst mal einer der vielen Benachrichtigungen gefolgt und beispielsweise bei Facebook gelandet, fängt sie der Newsfeed ein – dieser unendliche, algorithmisch sortierte Nachrichtenstrom. Auch hier wird Psychologie ausgenutzt. So erscheinen Nachrichten von Nutzern, mit denen wir in der Vergangenheit stärker interagiert haben und mit denen wir offenbar enger befreundet sind, tendenziell weiter oben. Das zweite ist die Erscheinungsform des Newsfeed selbst, erklärt Veljko Pejović von der University of Ljubljana. Auch dieses ist ganz bewusst darauf ausgerichtet, den Nutzer auf der Seite zu halten. „Er endet nie. Man hat immer das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn man nicht weiterliest.“

Evolution Als eine Sucht würde der Forscher Martin Pielot das Phänomen allerdings nicht bezeichnen. „Wir sind soziale Wesen und streben danach, sozial validiert zu werden, das ist eine evolutionäre Eigenschaft, um zu überleben“, sagt er, „und die wird ausgenutzt.“