Hans-Joachim Rühle hat seine Praxis vor ein paar Monaten Foto: factum/Granville

Experten, Stadträte und Vertreter der Stadtverwaltung diskutieren darüber, wie man langfristig die hausärztliche Versorgung sichern kann.

Sindelfingen - Ärztemangel ist ein großes Thema. Doch gibt es den wirklich? Für Hans-Joachim Rühle, den Chef der Kreisärzteschaft Böblingen, ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Einerseits sind da seine 800 Patienten, die er ohne gesicherte Versorgung zurücklassen musste, als er im vergangenen Sommer mit 68 Jahren seine Praxis schließen musste. Kein junger Arzt hatte sie übernehmen wollen. Und er ist nicht der einzige. Weitere vier Hausarztpraxen haben seither aufgegeben, weil sie keinen Nachfolger fanden. „Etwa 4000 Patienten stehen quasi auf der Straße“, klagt Rühle.

Auch bei der Sindelfinger Stadtverwaltung haben sich im vergangenen Jahr mehrere Bürger gemeldet, weil sie keinen neuen Hausarzt finden. Die Stadträte forderten in einem interfraktionellen Antrag, dass sich die Verwaltung um das Thema kümmern solle. Deshalb hatte der Bürgermeister Christian Gang nun zu einem Runden Tisch eingeladen.

Im September schließt wieder eine große Praxis

Und bei dieser Gelegenheit präsentierte Hans-Joachim Rühle auch die andere Seite des vermeintlichen Ärztemangels. Zwar sind nicht alle 130 zugelassenen Hausarztstellen für Böblingen/Sindelfingen besetzt, momentan gibt es nur 118 Allgemeinmediziner. Besorgniserregend sei aber, dass die Ärzte immer älter werden. So ist im Kreis Böblingen mittlerweile jeder dritte Allgemeinmediziner 60 Jahre oder älter, geht also bald in Rente. Und es gebe zu wenige Interessenten für Praxisübernahmen. Das nächste Loch befürchtet Rühle im September, wenn in Böblingen eine Praxis mit knapp 2000 Patienten schließt. Geändert habe sich vor allem die Einstellung junger Mediziner. „Die möchten nicht mehr in Einzelpraxen die ganze Woche arbeiten, sondern häufig in Teilzeit und am liebsten angestellt“, sagt Rühle.

Aber, das gibt Rühle zu bedenken, hätten die Deutschen eine hohe Anspruchshaltung. „Bei uns geht ein Patient 17 bis 18 mal pro Jahr zum Arzt.“ Das sei weit mehr als in den meisten anderen Ländern. Rühle schlägt vor: „Für jede Konsultation eines Arztes müssen die Patienten zehn Euro zahlen“. Dann würden nur die kommen, die wirklich einen Arzt brauchen“, lautet seine Überzeugung.

Auch Joachim Seidel, der Inhaber der Sindelfinger Löwen-Apotheke, sieht den Ärztemangel ambivalent. Er berichtete von den Problemen seiner Kunden nach der Schließung mehrerer Praxen. „Besonders für ältere Menschen mit Rollator und Sauerstoffversorgung ist es wichtig, dass sie ihren Arzt zu Fuß erreichen können.“ Auch gehe mit der Schließung von Arztpraxen zumeist ein Apothekensterben einher. Seidel selbst musste seine zweite Apotheke, die Central-Apotheke, aufgeben. Trotzdem ist er der Meinung: „Wir haben in Deutschland im Vergleich zu den meisten anderen Ländern noch immer eine sehr gute Versorgung mit Ärzten und Apotheken. Aber es wird unbequemer. “

Medizinische Versorgungszentren als Lösung?

Wolfgang Fechter vom Medi-Verbund, in dem sich Ärzte zusammengeschlossen haben, hält die Einrichtung vom Medizinischen Versorgungszentren für eine Lösung des Ärztemangelproblems. In solchen Zentren arbeiten Haus- und Fachärzte eng zusammen und können gemeinsam lästige Verwaltungsaufgaben delegieren. Dafür bräuchte es erfahrene Mediziner, die ihre Kompetenz einbringen und junge Nachwuchsleute entlasteten, stellte Fechter das Konzept vor.

Die Stadträtinnen Meike Stahl (CDU), Birgit Wohland-Braun (SPD) und Dorothee Kadauke (Freie Wähler) wollen ein Ärztehaus in der Stadtmitte – auch als Beitrag zur Innenstadtentwicklung. „Wir brauchen zunächst eine Bedarfsanalyse mit aktuellen Zahlen. Dann können wir planen“, forderte Thomas Schulz vom Stadtseniorenrat.

Dies versprach der Bürgermeister Gangl. Zudem will sich die Stadt nach einem geeigneten Standort für ein Ärztehaus oder ein Medizinisches Versorgungszentrum in der Innenstadt umschauen.