Klaus Philippscheck vor dem historischen Wirtshaus Traube Foto: factum/Granville

Der Ortshistoriker Klaus Philippscheck beklagt einen Mangel an Gespür für prägende Bauten.

Sindelfingen - Hier ragt ein historisches Kleinod neben dem anderen empor. Die Kurze Gasse „ist das Vorzeigeeck der Sindelfinger Altstadt“, sagt Klaus Philippscheck. Hier stehen Häuser, die mehr als 600 Jahre Menschheitsgeschichte überdauert haben. Mancher Fachwerkbau ist in erbarmungswürdigem Zustand, wie der historische Gasthof Traube. Manche sind liebevoll restauriert, andere zweckmäßig saniert. An einem grau verputzten Haus mit angeschraubter Metallterrasse erinnert allenfalls noch seine Form an eine Vergangenheit vor der Jahrtausendwende.

Das Haus des einstigen Schultheißen Hagdorn, einer der raren stattlichen Bauten zwischen den ehemaligen Bauern- und Weberhäusern, ist seinem Urzustand nahe. Allerdings klaffen im Dach gläserne Narben. Ohne die nachträglich eingebauten Mansarden „wäre das Dachgeschoss natürlich nicht vermietbar“, sagt Philippscheck. Der Einnahmen wegen haben die Denkmalschützer die Augen verschlossen. „Heikel, heikel“, sagt Philippscheck.

Das Echo auf architektonische Diskussionen ist meist ein Flüstern

Er ist vieles in Sindelfingen: Stadtführer, Ortshistoriker, Aktivist bei der Vereinigung Kultur am Stift, sachkundiger Bürger im Kulturausschuss, in dem er gelegentlich versucht, Gespräche über Architektur anzustoßen. Meist ist das Echo ein Flüstern. Diskussionsstoff gäbe es. Aktuell regt sich Unmut anhand zweier Beispiele: eben dem historischen Gasthaus Traube und einem ehemaligen Bauernhof an der Ziegelstraße. „Die Traube“ ist inzwischen weit über Sindelfingen hinaus bekannt als Punkerkneipe mit Livemusik. Das Haus soll saniert werden, die Kneipe ausziehen. Den alten Bauernhof hat die Baugenossenschaft Sindelfingen gekauft und will ihn abreißen.

Gegen Letzteres hatte der Fotograf Jimi Riegg schrägen Protest organisiert. Er mietete das Haus, hängte Fotos an die Wände und ein Banner hinaus: „Dieses Haus ist besetzt.“ Am Ende lud er zur Finissage mit Anti-Abriss-Demo. Die war nicht eben machtvoll, aber Philippscheck war einer derjenigen, die kamen. „Ich bin Herrn Riegg sehr dankbar für die Aktion“, sagt er, obwohl er nicht glaubt, dass der Abriss zu verhindern ist. Aber „hier ist ein Haus bescheidener als das andere“, sagt Philippscheck und schaut die Straße hinauf. „Irgendwo könnte man mal anfangen.“

Der Abriss sei akzeptabel, sofern die Baugenossenschaft ihrem Architekten den Auftrag erteilt, den Neubau so zu entwerfen, dass er zumindest an die Geschichte gemahnt. Die Ziegelstraße bestand einst nur aus Ziegelbauten, zwei Ziegeleien standen in unmittelbarer Nachbarschaft. „Dieses Gestaltungsmerkmal kann man doch in einem modernen Bau auch aufgreifen“, sagt Philippscheck, und eine Qualitätsarchitektur könne zum Maßstab für künftige Sanierungen erhoben werden.

„Die Traube“ muss erhalten bleiben, sie ist als Denkmal geschützt. Die Sindelfinger Wohnstätten sollen sie sanieren. Ob hernach wieder die Punks einziehen dürfen, ist eine andere Frage. Mehr als 400 Gäste haben gegen das Ende der Pinte unterschrieben. Bleibt ihr Protest erfolglos, „gibt es in der Innenstadt keinen Treffpunkt für junge Leute mehr“, sagt Philippscheck. „Um eine 65 000-Einwohner-Stadt ohne Jugendkneipe zu finden, muss man weit laufen“.

Ursprünglich sollte die gesamte Altstadt abgerissen werden

Wie meist, hätte alles viel schlimmer kommen können. 1962 hatte der Gemeinderat den Abriss der gesamten Altstadt beschlossen. In etlichen Häusern gab es nicht einmal Toiletten. In den Siebzigern rettete ein Verein das, was noch geblieben war. Seither wird viel Geld investiert in die Hege historischer Bauten. Aber außerhalb der alten Stadtmauern gilt als Leitfrage: Ist das ein Denkmal oder darf das weg? Weshalb Sindelfingen mindestens Durchreisenden als die Stadt der breiten Straßen gilt, die allesamt zum Daimler führen.

Für Alteingesessene war Anfang des Jahrzehnts der Abriss der einstigen Brauerei Schlanderer ein Wecksignal. Der Backsteinbau in der Stadtmitte musste Seniorenwohnungen weichen, deren massive Architektur noch immer umstritten ist.

„Die Backsteinarchitektur hat das Stadtbild geprägt“, sagt Philippscheck, „und sonntags ist man in den Biergarten spaziert“. Die Brauerei sei das herausragende Beispiel für „Ecken, die viele als ortsprägend empfinden, und die zu Gunsten gesichtsloser Bauten verschwinden“. Die Empfindlichkeit gegen diese Entwicklung wächst, Denkmal oder nicht. Zurzeit ist die Zukunft der rund 100-jährigen Villa Lanz fraglich. Das Haus verfällt, dem Eigentümer fehlt das Geld zu sanieren. „Die Stadt sagt, das ist nicht unser Thema“, sagt Philippscheck, „aber Kulturgeschichte endet doch nicht mit dem 18. Jahrhundert“.