Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel schildert seine Sorgen bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz besonders eindrücklich. Foto: AFP

Die Münchner Sicherheitskonferenz zeichnet ein ernstes Bild der globalen Gefahrenlage. Außenminister Sigmar Gabriel sieht die Welt „am Abgrund“. Deutschland könne nicht „der einzige Vegetarier unter Fleischfressern bleiben“.

München - Am Ende der 54. Sicherheitskonferenzist die Frage beantwortet, die der Gastgeber Wolfgang Ischinger dem diesjährigen Treffen vorangestellt hat: „Bis zum Abgrund und zurück?“ („To the brink and back?“). Dass der Rückzug aus der Gefahrenzone für die Weltsicherheit noch lange nicht geschafft ist, ist der rote Faden, der diese Konferenz durchzieht. München sei ein Synonym für Frieden, sagt zwar der israelische Premierministers Benjamin Netanjahu zu Beginn seines Auftritts am Sonntag. Doch der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel schildert eindrücklich den Ernst der Lage.

Was die globale Sicherheit anbelangt, sieht der Sozialdemokrat, dessen Verbleib im deutschen Kabinett ungewiss ist, düstere Zeiten heraufziehen. „Die Welt steht Anfang 2018 am Abgrund. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind derzeit die knappsten Güter in der internationalen Politik.“ Dann umreißt Gabriel die Krisenfelder: Eine „brandgefährliche Eskalation“ in Nordkorea, „akute Kriegsgefahr“ auch für enge Partner Deutschlands rund um Syrien, klare Machtansprüche Russlands, ein wachsender Führungsanspruch Chinas und immer wieder Irritationen über Washington.

Die Sicherheitslage sieht Gabriel sehr kritisch

Wie erkaltet das Verhältnis zwischen Washington und Moskau ist, führen Lawrow und US-Präsident Donald Trumps nationaler Sicherheitsberater Herbert Raymond McMaster auf offener Bühne vor. Lawrow macht in bekannter Manier die Arroganz des Westens und die Osterweiterung der Nato als Ursache für die Eiszeit zwischen den beiden großen Mächten verantwortlich. Die Anklage der US-Justiz, die 13 Russen Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl vorwirft, tut er als „Geschwätz“ ab. McMaster kontert nicht weniger ruppig, die Beweise dafür seien „wirklich unumstößlich“ und begründet die neue Nuklearstrategie seines Landes, Atombomben mit geringer Sprengkraft zu entwickeln, als Vorsichtsmaßnahme gegen die Aufrüstung in Russland. Auf Zeichen einer noch so vorsichtigen Annäherung warten die Sicherheitspolitiker in München vergeblich.

Die Spannungen innerhalb der Nato sind in München mit Händen zu greifen. Die Türkei wirft den USA samt Verbündeten vor, in Syrien mit kurdischen und aus ihrer Sicht terroristischen Organisationen zusammenzuarbeiten. Und McMaster winkt im Gegenzug mit einem neuen Vergeltungsschlag, weil Syrien und seine Verbündeten nach wie vor Chemiewaffen einsetzten. Dass McMaster, ganz im Bemühen um eine freundschaftliche Geste gegenüber dem Konferenzgastgeber Deutschland, seine Zuhörer am späten Samstagvormittag auf Deutsch mit einem fröhlichen „Guten Abend“ begrüßt, bleibt nicht das einzige Missverständnis. Von US-Präsident Donald Trump kassiert McMaster später einen Rüffel-Tweet, weil der in München vergessen habe zu erwähnten, dass russische Machenschaften keinerlei Einfluss auf seine Wahl gehabt hätten. Eine solche Desavouierung bleibt US-Verteidigungsminister James Mattis erspart, weil er auf einen öffentlichen Redeauftritt in München verzichtet. Aber das hilft den Verbündeten auch nicht weiter dabei, die US-Regierung einzuschätzen und „unser Amerika wiederzuerkennen“, wie Gabriel es formuliert.

Gabriel will Strategien entwickeln, um europäische Interessen durchzusetzen

Gabriel ist nicht der einzige Europäer, der in München davon spricht, dass es heute wieder eine Systemkonkurrenz zwischen den liberalen Demokratien des Westens und neuen Autokratien gibt. Und Europa sieht der Bundesaußenminister deshalb an einer Wegscheide. „Europa braucht auch eine gemeinsame Machtprojektion in der Welt“, sagt er. Es gehe jetzt darum, Strategien und Instrumente zu entwickeln, um europäische Interessen durchzusetzen, notfalls auch militärisch. Das sei zwar nicht leicht, vor allem für die Deutschen, räumte Gabriel dabei ein. „Aber als einziger Vegetarier wird es für uns in einer Welt der Fleischfresser nicht leicht werden“, fügt er sarkastisch hinzu. Darin sind sich auch viele europäische Politiker von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über Frankreichs Regierungschef Edouard Philippe bis hin zu Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz einig. Philippe und Kurz mahnen wie Gabriel, Europa dürfe Peking nicht das Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ von China nach Europa und Afrika überlassen.

Hinzu kommt die Sorge, die die USA mit ihrer neuen Nuklearstrategie zur Entwicklung von Atombomben mit geringerer Sprengkraft auslösen. Nicht nur Russland befürchtet, dass damit eine neue atomare Aufrüstung in Gang kommt, an deren Ende die USA diese „Mini-Nukes“ am Ende tatsächlich einsetzen könnten. Der frühere Nato-Generalsekretär Javier Solana hat die Mehrheit im Saal klar auf seiner Seite, als er seine tiefe Besorgnis äußerte. „Der bisherige Umgang mit Atomwaffen war viel restriktiver“, mahnt er in Richtung USA. „Jetzt geht es um Waffen, die taktisch eingesetzt werden können. Das kann man doch nicht so leichtfertig hinnehmen, wie Sie das hier tun.“

Neue Nuklearstrategie Washingtons weckt Ängste

Als Kuriosität am Rande wirkt, dass Washington und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Europäer angesichts der 2017 vereinbarten ständigen, strukturierten Zusammenarbeit in der Verteidigung (Pesco) mehrfach mahnten, keine Doppelstrukturen zur Nato zu schaffen. Schließlich sind die Klagen notorisch, dass Europas Anteil an der Lastenteilung im Bündnis steigen müsse. In der deutschen Delegation ist der Wille erkennbar, diese Kritik als Anerkennung für die Schlagkraft dieser Initiative von 25 der 28 EU-Mitgliedsstaaten zu deuten.

Rhetorisch machen Sigmar Gabriel und die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit ihrem Bekenntnis zu einem stärkeren militärischen Gewicht der Europäer eine gute Figur. Dass die Finanzausstattung der Truppe dabei nicht mithalten kann, müssen sie sich von den Verbündeten und Partnern in München aber auch ein ums andere Mal vorhalten lassen – mal diplomatisch, wie von Frankreichs Regierungschef Philippe, mal direkt, wie von Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid oder robust, wie von Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Er fordert „mehr Kampfpanzer und weniger Denkfabriken. Von denen haben wir genug.“