Fußgänger fühlen sich als Verkehrsteilnehmer in der Tübinger Straße nicht immer wohl. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Begegnungszone statt Shared Space: Dahinter verbirgt sich eine neue Idee, die zu mehr Frieden im Stadtverkehr führen soll. Denn laut des Behindertenbeauftragten Tattermusch kommt es immer wieder zu Problemen. Das Bundesverkehrsministerium prüft die Idee nun.

Stuttgart - Der graue Alltag zerstört oft die schönsten Visionen. Auch den Shared Space, vulgo Mischverkehrsfläche, in der Tübinger Straße feierten Politiker und Stadtplaner als glänzende Idee. Doch die Realität lehrt nun alle: Die Sache, die auf gegenseitige Rücksicht baut, funktioniert nicht wie erhofft. „Der Gedanke ist zunächst bestechend“, weiß auch Stuttgarts Behindertenbeauftragter Walter Tattermusch, aber inzwischen häufen sich die Klagen in seinem Büro. Denn statt dass sich alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt begegnen – Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer – gilt das Recht des Stärkeren.

„Menschen mit Behinderung fühlen sich von Autofahrern, die hier eigentlich Schrittgeschwindigkeit fahren sollten, und rücksichtslosen Radfahrern, die die Tübinger Straße für eine Radfahrerstraße halten, immer wieder erschreckt, bedrängt und abgedrängt“, sagt Tattermusch, „ich habe mich selbst dort kundig gemacht und sehe die Kritik der Menschen mit Behinderung bestätigt: Im alltäglichen Verkehrsfluss gibt es in der Tübinger Straße leider keine Gleichberechtigung.“ Daher gibt es für den früheren Leiter des Sozialamtes nur eine Lösung: den Fußgängern muss Vorrang eingeräumt werden.

Schweizer liefern das Vorbild

Offenbar seien unterschiedliche Mentalitäten der Grund für das Scheitern des Shared-Space-Konzeptes. Denn das Konzept kommt ursprünglich aus Holland. Dort verkehren die Menschen in der Mehrzahl im öffentlichen Raum allerdings anders miteinander als die Deutschen, so Tattermusch. Für ihn steht fest: Das Konzept lässt sich nicht eins-zu-eins auf hiesige Verhältnisse übertragen. Daher müsse man umdenken und den Blick in die Schweiz richten: „Auch die Schweiz hat sich von den Niederländern inspirieren lassen. Aber in der Schweiz hat man es anders gemacht und für dieses Verkehrskonzept einen passenden Rahmen geschaffen, der die Straße als Begegnungszone definiert.“

Konkret bedeutet das, es müsste nach dem Vorbild der Schweiz ein neues Verkehrsschild samt neuer Regeln her: die Höchstgeschwindigkeit ist dort für alle auf 20 km/h begrenzt, Fußgänger haben Vortritt, dürfen jedoch die Fahrzeuge nicht unnötig behindern. Und das Parken ist nur an den durch Schilder oder Markierungen gekennzeichneten Stellen erlaubt. Für diese Idee, zu der Tattermusch den Stadtplaner Stephan Oehler inspiriert hat, können sich nun mehr begeistern. Oehler selbst findet den Ansatz „aus planerischer Sicht gut“. Auch andere Behörden der Stadt sollen nicht abgeneigt sein. Susanne Jallow von der Fußgänger-Initiative Fuss e.V. „begrüßt“ den Vorstoß ebenso. Lediglich die Stuttgarter Polizei verhält sich neutral. „Wir können das Begehren nachvollziehen, aber wir haben von unseren Innenstadtwachen keine Rückmeldungen darüber, dass es in der Tübinger Straße im Bereich des Shared Space zu sicherheitsrelevanten Problemen kommt.“

Karin Maag kämpft für die Idee

Die CDU-Bundestagsabgeordnete Karin Maag ist dagegen Feuer und Flamme. Sie hat die Tattermusch-Idee sogar Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer ans Herz gelegt. In einem Brief schrieb sie: „Unsere Schweizer Nachbarn haben mit dem Verkehrsschild der Begegnungszone sehr gute Erfahrungen gemacht. Deshalb möchte ich anregen zu prüfen, ob auch in Deutschland ein entsprechendes Schild eingeführt werden kann.“

Noch hat der Verkehrsminister nicht geantwortet. Aber vielleicht wird aus der Verkehrsmischfläche mitten in der Stadt ja bald eine Begegnungszone.