Sydney (Sophia Lillis, li.) und Stanley (Wyatt Oleff) haben mal wieder Krach. Foto:Netflix Foto:  

„I am not okay with this“ bei Netflix ist eine ziemlich großartige Jugendserie nicht nur für Jugendliche. Wer „The End of the f+++ing World“ mag, „Stranger Things“ oder – Überraschung – „Fargo“, sollte hier mal reinschauen.

Stuttgart - Sie habe mit einem Mitschüler einfach mal so Sex in der Schulbücherei gehabt, gesteht Sydney ihrer besten Freundin Dina, darum brauche sie nun schleunigst Hilfe. Die Aufnahmen der automatischen Überwachungskamera müssten aus dem Rektorat geklaut werden. Die Geschichte ist wunderlich: Die kluge, wache, aber unsichere Sydney (Sophia Lillis) gilt den Angebern an der Schule als Langweilerin, bei deren Anblick Plastikblumen welken.

Stanley Barber (Wyatt Oleff) gar, der Typ, mit dem sie die heftige Praxisstunde Biologie absolviert haben will, ist für die Sportheldenfraktion die größte Lachnummer: ein Hänfling ohne Freunde, der filzstiftfarbene 70er-Jahre-Discohengst-Anzüge trägt, die schon damals nicht einmal beim Trauzeugen einer Mafiahochzeit durchgegangen wären.

Unerwünschte Kräfte

Die Wahrheit in der außerordentlichen Netflix-Serie „I am not okay with this“ ist aber noch viel seltsamer als die Lüge vom Lustexzess. Sydney hat die Bibliothek verwüstet, hat alle Regale auf einmal umgeworfen – mit ihren neuen, unerwünschten Superkräften. Der Stress der Pubertät, die vielen Konflikte im Leben des Mädchens, dessen Vater vor einem Jahr Selbstmord begangen hat, machen sich in poltergeistartigen Eruptionen Luft. Der Boden wackelt, Möbel rütteln, Bowlingkugeln fliegen anderen um die Ohren, Risse in Wänden tun sich auf – und das sind noch die harmloseren Fälle. Einmal legt Sydneys Frust in einem Kreis um sie her ausgewachsene Bäume flach wie ein Minitornado. Diese Frau ist gefährlich für sich und andere und wäre am liebsten wieder ganz schnell ganz normal.

Teeniedrama plus wahlweise Superkräfte, Magie oder Horrorbedrohung: Das ist gerade eine der Erfolgsformeln von Netflix. Viele der Angebote sind konsumierbar, aber nicht besonders originell. „I am not okay with this“ ist anders, ruppiger ehrlicher, poetischer, schräger, eigensinniger als die Konkurrenz. Kein Wunder, denn auch diese Serie basiert auf einem der so lebensnahen wie abgedrehten Indie-Comics von Charles Forsman, wie die Netflix-Serie „The End of the f***ing World“. Und wieder ist Jonathan Entwistle der Showrunner, diesmal unterstützt von der früheren Theaterautorin Christy Hall. Da hat sich ein großartiges Produktionsteam zusammengefunden, unterstützt vom erfahrenen „Stranger Things“-Produzenten Shawn Levy.

Angenagte Provinz

Wie die „Stranger Things“-Helden scheinen auch Sydney, Stanley und Dina in der US-Provinz der 80er Jahre zu leben, nur nicht in der an Spielbergs Träumen geschulten Kinovariante. Diese Kids leben im Rostgürtel der USA, unweit von Pittsburgh, dort, wo die alte Schwerindustrie bereits in die Knie gegangen ist. Die Kamera zeigt eine aus wegsackender Industriearchitektur, Arbeitersiedlungsnüchternheit, dörflicher Wärme und struppiger Natur gemischte Umgebung. Die Häuser sind nicht niedlich, schick oder ulkig eingerichtet, sondern ein bisschen funktional, ein bisschen ärmlich, ein bisschen kurios.

Das Dilemma der Pubertät, das Zwischendrinsein, die Unzugehörigkeit, setzt sich in anderer Form im Erwachsenenleben fort. Diese Provinz ist nicht schön genug, um glücklich zu machen, und nicht schlimm genug, um einen davonzugraulen. Das erzählt diese Serie, die von Jugendlichen handelt, aber keineswegs nur Jugendlichen gefallen kann, so wie große Filme: nicht über alles ausbuchstabierende Dialoge, sondern über ihre Bilder.

Große Vorbilder

Nach einer Weile merkt man, dass man sich in einem Paralleluniversum befindet, das nicht entlang historischer Genauigkeit ausgerichtet ist, sondern entlang der Befindlichkeit der Figuren. Hie und da blitzt moderne Alltagstechnologie auf, die es in den Achtzigern nicht gab. Aber diese Technik hat das Leben der Protagonisten nicht so bestimmend durchdrungen wie unsere Realität.

Die Serienmacher erwähnen unter anderem „The Breakfast Club“ von John Hughes, „Lady Bird“, „X-Men“ und die Serien „Twin Peaks“ und „Fargo“ als Vorbilder an denen sie sich für dieses oder jenes Mosaiksteinchen orientiert hätten. Das klingt arg vollmundig, erweist sich aber als ganz korrekte, nur eben nicht vollständige Angabe von Inhaltsstoffen. Wie sauber die realistischen Unsicherheiten und Ungeschicklichkeiten der Personen mit den Fantasyelementen verknüpft werden, das ist eine Eigenleistung dieser Serie. Und vor allem Sophia Lillis und Wyatt Oleff spielen so quicklebendig, dass man nicht weiß, ob man sich zurückwünschen soll ins Abenteuer Jungsein – oder dem Himmel danken, dass man wenigstens diesen Horror irgendwie überstanden hat.

Verfügbarkeit: Netflix, alle 7 Folgen bereits abrufbar