Wolfgang Bierer 2011 im japanischen Minamisanriku beim Verteilen von Orangen. Foto:  

Wolfgang Bierer lebt in seiner Wahlheimat Tokio. Seit dem Tsunami sammelt er Spenden und bringt Lebensmittel in die verwüstete Region rund um Fukushima. Er fürchtet, dass die Städte dort ausbluten und engagiert sich deshalb weiter für die Menschen.

Waiblingen - Am 11. März 2011 löste ein Megabeben der Stärke 9,0 vor der japanischen Ostpazifikküste haushohe Tsunamis aus, die mehr als 400 Kilometer Küste verwüsteten. 15 899 Menschen wurden getötet, weitere 2527 gelten als vermisst. Im Atomkraftwerk (AKW) Fukushima kam es zur Havarie. Der Wahl-Tokioter und gebürtige Waiblinger Wolfgang Bierer hat seither einen sechsstelligen Spendenbetrag für die Bedürftigen in Japan gesammelt.

Nach wenigen Tagen im Hilfskonvoi

Am 1. April 2011 setzte sich Bierer in Tokio ans Steuer eines 40-Tonners, im Laderaum 8000 Liter Wasser, neben sich einen Geigerzähler. Keiner wusste, was sie in Fukushima erwarten würde, weshalb sie bei der ersten Fahrt das US-Militär begleitete. 280 Kilometer Strecke hatten sie vor sich sowie einen 80-Kilometer-Umweg um den havarierten Meiler Fukushima herum. Ihr Ziel war Minamisoma. Der Bürgermeister hatte per YouTube einen verzweifelten Hilferuf an die Welt abgesetzt: Sie seien von der Versorgung abgeschnitten. Er habe Angst, dass seine Bürger verhungern würden.

„Die Straßenverhältnisse waren Chaos pur“, erinnert sich Bierer. Er und weitere Helfer von Organisationen wie Second Harvest und Allhands Volunteers erreichten schließlich die 75 000-Einwohner-Stadt, aus der damals zwei Drittel der Bevölkerung geflohen waren. Mitten in der Nacht stellten sie das Wasser auf einem Parkplatz ab und schliefen in den Fahrzeugen.

Japaner sind sehr geduldig gewesen

In Deutschland oder den USA würde es „Mord und Totschlag“ geben, glaubt Bierer. In Japan hätten sich Sorgen vor Unruhen als unbegründet erwiesen. „In der großen Krise funktioniert das Miteinander.“ Noch heute erinnert sich Bierer beeindruckt an die Geduld der Betroffenen. Oft seien sie zum Übernachten in Gemeindezentren eingeladen worden und die Leute hätten sich bei ihnen mit kleinen Geschenken revanchiert.

Als ausgebildeter Rettungssanitäter sei er damals seinem Instinkt gefolgt. Geholfen habe ihm sein Einsatz bei einer Spezialeinheit der Bundeswehr für Atomwaffentransporte – und seine Kennerschaft: 25 Jahre seines Lebens hat der gebürtige Stuttgarter schon in Japan verbracht.

Der Sohn war in Gefahr

Bierer ist in Waiblingen aufgewachsen und heute 52 Jahre alt. Seit 16 Jahren ist er als Unternehmensberater und mit einer Handelsfirma mit rund 200 Mitarbeitern selbstständig. Mit seiner Frau Ute (44), die Physiotherapeutin und Trainerin ist, und zwei Söhnen, zwölf und 14 Jahre alt, lebt er in Tokio.

Die Familie ist Japan so eng verbunden, dass sie bereits im Mai 2011, also nur kurz nach dem verheerenden Beben, in die 13-Millionen-Stadt zurückkehrte – obwohl sie zuvor dramatische Tage erlebt hatten. Am 11. März war der damals vierjährige Sohn mit einer befreundeten Familie unterwegs, als sich um 14.46 Uhr das Beben ereignete. Im Fernsehen waren Bilder von explodierenden Öltanks zu sehen. Er sei kurz davor gewesen, seien Sohn mit dem Rad zurückzuholen, sagt Bierer. Gegen 18 Uhr hat er ihn wohlbehalten zurückerhalten.

Flucht auf eine andere Erdplatte

Zwischen apokalyptischen Tsunami-Bildern häuften sich bald Hiobsbotschaften vom AKW. Am Nachmittag des 12. März explodierte das erste von drei Reaktorgebäuden. Am Abend packte die Familie vier Schlafsäcke ins Auto. „Wir wollten auf eine andere Erdplatte, um den Nachbeben zu entkommen“, erklärt Bierer. Sie fuhren ins 350 Kilometer entfernte Nagoya. Dort kannten sie jemanden, der einen Tempel führte. „Egal, wo wir schlafen, Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“ Am 15. März flog seine Familie über Seoul nach Deutschland. Bierer folgte widerwillig zwei Tage später.„Spiel nicht den Helden“, habe er zu hören bekommen.

Aber er behielt Japan im Blick. Sein erster Gang nach der Ankunft in Winterbach (Rems-Murr-Kreis) führte zur Zeitung in Waiblingen, der zweite zur Kontoeröffnung. Per Zufall hatte er von einem Japan-Benefiz-Konzert von vier Orchestern in der Liederhalle in Stuttgart gehört, das nach einem guten Zweck suchte. Second Harvest habe ihm garantiert, dass alle Spenden ohne Abzug bei Bedürftigen ankommen würden. Innerhalb weniger Stunden stellte er eine Präsentation zusammen und besorgte sich einen Anzug. Nach dem Konzert stieg der Spendenkontostand um über 60 000 Euro, innerhalb von zwei Jahren hatten sich die Spenden auf rund 180 000 Euro summiert.

Eine Familie zum Adoptieren

Das Ausgeben stellte sich als schwierig dar. Generell falle es Japanern schwer, Hilfsbedürftigkeit zuzugeben oder um Hilfe zu bitten, sagt Bierer. Außerdem gelte das Gleichheitsprinzip: „Die Zuständigen sagten, entweder wir haben ein Stück für alle oder wir können die gesamte Lieferung nicht annehmen.“ Second Harvest fand eine Lösung und richtete in der Tsunami-Region lokale Food-Banks ein, im nächsten Schritt wurde das Programm „Adopt a family“ gestartet: Alle zwei Wochen erhalten bedürftige Haushalte ein Care-Paket im Wert von etwa 200 Euro per Post. Der Inhalt: zehn Kilogramm Reis, Reiscracker, Seegras (Nori) und Sojasoße sowie weitere Lebensmittel. Zwischen 150 und 200 Haushalte seien heute auf der Versandliste. Bierer ist stolz darauf, dass Second Harvest aus acht gespendeten Euro einen Essenswert von 310 Euro generiere.

Bierers Engagement ist auch heute, zehn Jahre nach dem Tsunami, nicht erlahmt. Mindestens einmal jährlich fährt er in die Region. Von Japanern höre er manchmal: „Warum setzt du dich da oben ein?“ Sie hätten wenig Interesse an der abgelegenen Ecke Japans, erst recht, seit dort Schutzmauern zum Meer die vormals hübschen Küsten verschandeln.

Vergessene Region

Die nördliche Region Japans leide, auch weil wegen Corona die ausländischen Touristen weg. Der Zuschlag für Tokio, die Olympischen Spiele auszurichten, habe Bauunternehmen, Maschinen und Arbeitskräfte von dort abgezogen, weshalb sich der Wiederaufbau verzögere. Dabei habe es in der Bewerbung um die Spiele damals geheißen, man wolle die Opfer in den Krisengebieten dadurch unterstützen. Die Region Tohoku blute aus, sagt Bierer. Daher sei für ihn auch zehn Jahre nach der Katastrophe klar: Er werde mit Second Harvest die Hilfe für Tohoku fortführen.