Die Schweizer Banken sehen sich Vorwürfen ausgesetzt. Foto: dpa

Schweizer Finanzinstitute haben über Jahre Provisionen kassiert, die den Kunden zustehen. Doch sie ziehen alle Register, um nicht zahlen zu müssen – denn die Ansprüche verjähren. Betroffen sind bei weitem nicht nur Schwarzgeldsünder.

Stuttgart/Zürich - Die Uhr tickt. Doch davon weiß der schwäbische Autohändler nichts, als er im vergangenen Jahr wie so oft in die Schweiz reist. Er hat dort Kunden und vor einigen Jahren auch Geld angelegt. „Völlig legal“, betont er. Keine große Summe, aber zu guten Konditionen – denkt er jedenfalls. Bis ihm ein Geschäftspartner eröffnet: „Du bist bestimmt auch ein Bankenopfer.“ Der Autohändler ist verwirrt. Und recherchiert. Er stößt darauf, dass seine Bank ihm tatsächlich Tausende Euro schulden könnte. Und dass die Summe jeden Tag kleiner wird, weil sie nach und nach verjährt.

So wie dem Händler geht es zahlreichen Kunden Schweizer Banken. Die Geldinstitute haben über viele Jahre hinweg verdeckte Provisionen für sich behalten, die sie laut Gerichtsurteilen den Kunden geben müssten. Diese sogenannten Retrozessionen haben ihnen die Anbieter von Fonds, Zertifikaten und anderen Finanzprodukten für die Vermittlung des Geschäfts bezahlt. Manchmal sind sie zum gegenseitigen Nutzen in Teilen wieder zurückgeflossen. Das kann die Unabhängigkeit der Bankberater beeinflussen. Deshalb hat das Schweizer Bundesgericht geurteilt, dass das Geld den Kunden zusteht.

Hubert Schwärzler formuliert es deutlich. „Den Kunden wurde Geld geklaut. Das ist höchstrichterlich entschieden“, sagt der Chef der Firma Liti-Link. Die sitzt in Kriessern in der Nähe des Bodensees und hat sich wie einige andere Unternehmen darauf spezialisiert, den Kunden zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Betroffenen treten einen Teil des Geldes an Liti-Link ab, sollte das Vorgehen gegen die Bank erfolgreich sein. Und sie müssen sich sputen. Denn die Ansprüche verjähren nach zehn Jahren. Meist ist das System bis 2012, manchmal auch noch bis 2014 praktiziert worden. „Jeden Tag verjährt sehr viel Geld zugunsten der Schweizer Finanzinstitutionen. Die verbuchen das dann als Gewinn“, sagt ein deutscher Steuerberater, der schon mehrfach Mandanten auf das Problem aufmerksam gemacht hat.

Es geht um Milliarden Euro

„Es geht um unglaubliche Summen“, weiß Schwärzler. Laut einer Studie auf Basis von Zahlen der Bankiersvereinigung Swiss Banking haben Schweizer Banken allein im Jahr 2012 rund 4,2 Milliarden Franken (3,9 Milliarden Euro) oder umgerechnet 12,4 Prozent der Wertschöpfung im Bankensektor durch den Erhalt und die Einbehaltung von Retrozessionen generiert. Genaue Angaben darüber, wie viele Kunden weltweit betroffen sind, gibt es nicht.

Klar ist aber, dass es allein in Deutschland Hunderttausende sein müssen. Rund 135 000 Steuerhinterzieher haben in den vergangenen Jahren Selbstanzeige erstattet, weil sie Geld in der Schweiz gebunkert hatten, ohne dass das Finanzamt davon wusste. Diese Betrüger, die inzwischen reinen Tisch gemacht haben, dürften nach Meinung von Experten ausnahmslos selbst von den Banken über den Tisch gezogen worden sein.

Aber – entgegen der landläufigen Meinung – bei weitem nicht nur sie. „Wir fragen unsere Kunden nicht danach. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es sich nicht nur um Privatpersonen und Schwarzgeldanleger handelt, sondern auch um kleine und mittlere Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen zur Schweiz haben. Handwerker, Rechtsanwälte, Händler, es ist alles dabei“, sagt Elisabeth Bachbauer, die bei Liti-Link für den deutschen Markt zuständig ist. Es handle sich oft um „ganz normale, hart arbeitende Menschen, die legal Geld in der Schweiz angelegt haben“. Etwa der Selbstständige mit seiner Altersvorsorge. Oder Erbengemeinschaften. Oder sogar Pensionskassen.

Viele Betroffene in Baden-Württemberg

Die meisten deutsche Kunden kommen aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Viele sind im Raum Stuttgart oder am Bodensee zu Hause. „Der typische deutsche Kunde hat keine riesigen Vermögen angelegt, sondern Summen zwischen 750 000 und einer Million Euro“, erzählt Bachbauer. Immer noch viel Geld – und dementsprechend hoch sind auch die Rückforderungen, die die Geprellten geltend machen können. Die Vertriebsprovisionen lagen bei 0,5 bis zwei Prozent. Inklusive Zinsen kann jemand, der zum Beispiel 100 000 Euro angelegt hatte, jetzt bis zu 10 000 Euro zurückfordern, in Einzelfällen sogar mehr.

Aber kaum einer tut’s. Liti-Link betreut mehrere Hundert Kunden. Doch Schwärzler schätzt, dass insgesamt „weit unter einem Prozent der Berechtigten“ bisher Ansprüche geltend gemacht hat. Geld, das den Leuten zusteht, das aber kaum einer bekommt? Gründe dafür gibt es mehrere. Ehemalige Schwarzgeldkunden, die reinen Tisch gemacht haben, wollen oft mit dem Thema Schweiz abschließen. Viele wissen von der Thematik gar nichts. Und wieder andere versuchen es zwar auf eigene Faust – scheitern aber an der Strategie der Banken. „Manche Institute haben begriffen, dass die gute Geschäftsbeziehung auch etwas wert ist. Aber die meisten spielen geschickt auf Zeit“, erzählt Schwärzler. Er kennt die Standardantworten, die Kunden erhalten, die unzähligen Abwimmelversuche. Da werden schon einmal 250 Euro für eine Kopie verlangt, um Betroffene abzuschrecken.

Als Einzelkämpfer auf verlorenem Posten

Von einer Hinhaltetaktik gewisser Banken spricht auch Monika Roth. Es komme darauf an, mit welchem Institut man es zu tun habe. „Sie verzögern die Offenlegung der Retrozessionen zum Teil bewusst, um Rückzahlungsverpflichtungen möglichst verjähren zu lassen. Das zieht sich zum Teil über Monate. Es geht eben um viel Geld“, sagt die Juristin vom Institut für Finanzdienstleistungen an der Hochschule Luzern. Von sich aus gehe niemand auf die Kunden zu. Zwar sei es grundsätzlich denkbar, dass Kunden sich selbst um ihren Herausgabeanspruch kümmern. Die Erfahrung zeige aber, dass es einfacher sei, wenn man sich professionelle Unterstützung hole. Auch die Professorin hat festgestellt, dass es sich bei den ausländischen Kunden bei weitem nicht nur um ehemalige Schwarzgeldkunden handelt: „Da ist alles dabei.“

Wer übrigens glaubt, dass die Praxis der Retrozessionen komplett vom Tisch ist, täuscht sich. „Viele Banken machen das immer noch“, weiß Monika Roth. Allerdings müssen die Kunden dann eine ausdrückliche Verzichtserklärung unterschreiben und vor dem Verzicht die Spannweite dieser Entschädigungen kennen.

Wenig staatliche Aufsicht

Von staatlicher Seite dürfen betroffene Kunden wohl kaum Unterstützung erwarten. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht Finma teilt mit, Retrozessionen seien derzeit vor allem im Zivilrecht erfasst. „Als Aufsichtsbehörde ist das nicht unser Gebiet“, sagt ein Sprecher in Bern, obwohl die Finma selbst angeordnet hat, dass die Banken die Vergütungen offenlegen müssen. Allenfalls könne der Schweizer Bankenombudsmann Einschätzungen geben. Experten halten aber auch dort den Informationsgewinn für gering, denn auf dessen Internetseite fänden sich schon von vornherein zweifelhafte Angaben. Schwärzler kommentiert das ganz trocken: „So ist die Schweiz. Die Aufsicht funktioniert nicht. Es gibt kaum Konsumentenschutz wie in Deutschland.“

Und die Banken? Sagen am liebsten gar nichts zu dem ungeliebten Thema. Anfragen bei mehreren großen Häusern bleiben unbeantwortet. Nur die UBS in Zürich nimmt Stellung. Zwar nicht zur Höhe der bisherigen Rückerstattungen, aber über das Vorgehen. Man verwende schon seit 2014 bei Vermögensverwaltungsmandaten keine Produkte mit Retrozessionen mehr. Man habe damit „eine Vorreiterrolle beim Trend hin zu größerer Kostentransparenz für die Kunden eingenommen“. Bei Bedarf erörtere man das Thema „fallweise mit den Kunden“.

Zumindest, wenn die von sich aus aktiv werden. Und bis dahin tickt die Uhr.