Gerlinde Zaiß ist die „gute Seele in der Stub“. Wein und Schwäbisches gibt es in ihrem Sonnenbesen in Obertürkheim. Foto: Lichtgut/Ines Rudel

Im Herbst räumten einst die Wengerter ihre Stube aus, es gab Wein und Vesper. Die Schwaben lieben die Besenwirtschaft. Doch was ist aus den alten Traditionen geworden? Ein Besuch bei zwei Wengerter-Familien.

Stuttgart - An dem Haus mit der Nummer 54 hängt der Besen draußen vor der Türe. An einem Montag um kurz nach 18 Uhr sind bei Elsbeth an der Epplestraße in Degerloch alle Tische bereits belegt. Man bleibt kurz irritiert in der Tür stehen. Da ruft es schon von einem Tisch: „Junge Frau, bei uns isch noch Platz.“ In der Besenwirtschaft setzt man sich einfach dazu. Die schwäbische Wirtshausregel, zehn Schwaben gleich zehn Tische, gilt dort nämlich nicht. „Mir sind international. Rassismus kennet mir net. Jeder isch willkommen“, sagt der Herr. Die Freundin, die noch komme, dürfe sich natürlich auch gerne dann dazusetzen. Man solle ihn „Rüdiger“ nennen, sagt der Herr, und er sei Stammkunde in Elsbeth Gohls Besen. Rüdiger und seine Trinkkumpels freuen sich riesig außerordentlich über die neue Gesellschaft: „Ha, zwei Topmodels.“

Im „Besa“ findet jeder Anschluss

Über das Traubensaftschorle rümpfen sie kurz die Nase, empfehlen dann Elsbeths Maultaschen und den Kartoffelsalat. Nirgends gebe es einen besseren. Die Elsbeth koche alles noch selbst. Die Namen seiner Tischnachbarinnen will sich Rüdiger nicht merken: „Ich nenn euch einfach Hase 1 und Hase 2.“ Sagt er und freut sich riesig über seinen Einfall. Allerdings nur sehr kurz: „Das macht er nur wegen seiner Frau“, sagt Elsbeth, die plötzlich hinter ihm steht. „Da kommt er net durcheinander.“

Micha und Andreas setzen sich dazu. Und während man sich gerade so vorstellt und ein paar belanglose Floskeln austauscht, schreibt einem Micha schon in den Block: „Schön, dass ihr da seid!“ Und malt ein paar Herzle dazu. Eigentlich bräuchte man im Schwäbischen kein neumodisches Klump wie Dating-Apps. Im „Besa“, wie der Schwabe liebevoll die Besenwirtschaften nennt, findet jeder sofort Anschluss. Wenn nicht, hilft Elsbeth nach: „Ich schau auch, wenn Leute kommen, wo die dazu passen.“ Wenn die sich dann gut unterhalten, dann sei das ihre „Bestätigung“. „Das macht mich glücklich.“

Gemütlichkeit wird großgeschrieben

Traditionell war eine Besenwirtschaft früher kein richtiges Wirtshaus. Die Weinbauern haben einfach ihre Wohnzimmer oder die Scheune freigeräumt. Platz gab es fast nie. Man ruckte halt zusammen.

Elsbeth wohnt nicht mehr in ihrer Besenwirtschaft, aber es ist noch wohnlich eingerichtet: Lange Holztafeln, hinten steht noch ein altes Klavier, ein uralter Sekretär und eine gemütliche Ecke mit alten Sesseln. Sie ist in die Besenwirtschaft nicht nur hineingewachsen, sondern quasi hineingeboren: „Im hinteren Zimmer bin ich per Hausgeburt auf die Welt gekommen.“ Dort, wo heute ihre Besenwirtschaft ist, hat sie mit ihrer Familie gewohnt. Ihr „Vadder“ hat in den 70ern angefangen. Da war der Besen nur im vorderen Raum. Es gab einen Rotwein, einen Weißwein und ein Vesper.

Lange Tradition bis zu Karl dem Großen

Die Straußenwirtschaften, im Schwäbischen Besen genannt, sind eine uralte Tradition. Zurück geht diese wohl auf Karl den Großen. Der erlaubte irgendwann im achten Jahrhundert den Weinbauern ihren selbst produzierten Wein auszuschenken und dazu einfache Speisen anzubieten – höchstens jedoch vier Monate im Jahr. Die Straußenwirtschaften findet man in fast allen Weinbaugebieten Deutschlands. Im Schwäbischen heißt es Besen oder Besa, weil ein Reisigbesen an der Tür hängt, wenn geöffnet ist.

Als sie jung war, habe sie immer gesagt, „ich helf da net mit“, erzählt Elsbeth. Denn fast nur Männer saßen in der Besa und die haben halt doch viel getrunken. „Des 13. Viertele war immer umsonscht“, sagt Elsbeth und fügt etwas fassungslos dazu: „Danach sind die noch hoim gfahra.“

Größere Speisekarten, mehr Weine auf der Karte

Selbstverständlich hat Elsbeth dann aber übernommen. Ihr Sohn, ein Architekt, hat das untere Geschoss des Hauses liebevoll restauriert, dabei den alten Stil bewahrt. „Der Besen ist schwäbische Kultur, das muss man erhalten“, habe ihr Sohn gesagt. Pfiffige Marketing-Menschen würden es wohl „eine Marke“ nennen. Die meisten Wirte und Weinbauern nennen sich aus folkloristischen Gründen Besen – den alten Besentraditionen entsprechen sie oft dahingehend nicht mehr, weil sie nicht mehr im Wohnzimmer ausschenken, sondern in hellen, geräumigen Gasträumen. Die Speisekarten sind größer geworden, die meisten haben mehrere Weine im Angebot. Längst sind viele Besen eigentlich normale Gastronomiebetrieb mit Weinausschank – abgesehen von den temporären Öffnungszeiten im Herbst und im Frühjahr.

Früher: Ein Flur und zwei Stuben

Im Sonnenbesen in Obertürkheim an der Uhlbacher Straße 23 hat Familie Zaiß auch längst aufgerüstet: „Das ginge auch gar nicht mehr anders“, sagt Christian Zaiß. Der 37-Jährige führt mit seiner Frau Sonja und seiner Mutter Gerlinde den Betrieb in dritter Generation. Die „Stub“ ist heute ein geräumiger, heller Gastraum. Im Jahr 2001 sind sie in das Haus eingezogen, aber die Möbel sind noch von 1910. „Richtige Stubenmöbel“, sagt die Mutter. Früher war der Besen wirklich ein Flur und zwei Stuben. Zu Zeiten seines Großvaters, sagt Christian Zaiß, der mit seiner Familie über der Wirtschaft wohnt. Und während früher „nur Vierteles-Gläser auf dem Tisch“ standen, schenke sie heute viel Wasser aus, ergänzt Gerlinde Zaiß. „Im Besa hots traditionell nach Sauerkraut und Rauch grocha“, sagt sie und rümpft etwas die Nase.

Ende der 90er sei man aber der erste rauchfreie Besen geworden. Auch der Mittagstisch laufe zivilisierter ab, da trinke kaum einer Wein. „Früher haben die Männer mittags mehrere Viertele getrunken“, sagt Christian Zaiß während seine Mutter ihn schon unterbricht: „Von wegen paar Viertele zum Mittag . . . die sind dann au nemma ganga. Meistens hen se oin mit de Stempelkarte zurückgschickt.“

Heute gingen viele in den Besen und trinken . . . naja auch Traubensaftschorle. Die Gäste wollen Vielfalt und hochwertige Weine. „Die Qualität hat mit einer Besa von früher nix mehr gemeinsam.“ Man habe sich an die Wünsche der Gäste angepasst, sagt Christian Zaiß.

Auch Vegetarier sind inzwischen willkommen

Und an den Zeitgeist: „Früher hät man als Vegetarier grad rückwärts wieder zur Tür naus könne“, sagt er. Inzwischen gibt es Gerichte für Vegetarier. Trotzdem hät man im Sonnenbesen aber an der alten Besen-Karte fest: Cola, Fanta, Latte Macchiato – das sucht man vergeblich. Bier auch. „Selbst ältere Herrschaften fragen mich nach Bier“, sagt Gerlinde Zaiß empört. Aber sie sage dann immer: „Des wächst bei uns net.“ Das ist übrigens auch so eine alte Besenregel: Das Essen ist regional. Familie Zaiß besteht darauf, dass man ein richtiger Besen ist. Die Gäste hocken an einem Tisch, es gibt eigenen Wein, keiner bleibt lange alleine und Mutter Gerline ist „die gute Seele in der Stub“. Manchmal, wenn Gerlinde Zaiß gerade einmal Zeit hat, gibt es auch schwäbisches Grundlagenwissen umsonst dazu: Dann verrät sie ihren Gästen auch gerne mal ihr Kartoffelsalat-Rezept oder wie man ganz einfach eine große Gruppe an Gäste glücklich macht: mit einem richtigen Krustenbraten nämlich.