Sarajevo liegt zwischen hohen Bergen in einem von Ost nach West ausgestreckten Tal. Foto: Fotolia

Will man verstehen, was Europa war und sein könnte, muss man diese Schicksalsstadt auf dem Balkan besuchen, von der so viel Unheil ausging und die so viel Leid erfahren hat – ein Besuch in Sarajevo, wo vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg begann.

Sarajevo - Licht an: Sorgfältig heben die Strahlen von der Gelben Festung her ein Minarett nach dem anderen aus der Dämmerung heraus. Morgens früh ist es überraschend kühl in Sarajevo, aber wenn die Sonne dann endlich kommt, macht sie viel Aufhebens von sich. Als Nächstes streift sie den Zwiebelturm der orthodoxen Kathedrale, dann auch die beiden neugotischen Türme der katholischen. Schließlich gießt sich das Licht durch die engen Gassen des Basarviertels.

Und abends: Licht aus. Sarajevo liegt zwischen hohen Bergen in einem von Ost nach West ausgestreckten Tal und eignet sich damit gut zur Sonnenuhr. Jeder kennt und unterscheidet die „memli strana“, die muffige, feuchte Seite am linken Ufer der Miljacka, und die sonnige am rechten. Jeder weiß, wo es wann hell und dunkel wird. Sarajevo ist eine besondere Stadt, mehr noch aber eine Stadt der Besonderheiten. Nicht einmal die Sonne bescheint alle gleich.

In der Bašcaršija, dem Handels- und Handwerkerviertel im Osten der Innenstadt, steht es auf den Kaffeetassen und als Wandspruch in den Souvenirläden: Das hier ist „die einzige Stadt in Europa mit Gotteshäusern von vier Religionsgemeinschaften“ – Katholiken, Orthodoxen, Muslimen und Juden. So, mit dem Pathos des Nationalepikers, hat der Literaturnobelpreisträger Ivo Andric in „Brief aus dem Jahre 1920“ den Mythos von Sarajevo beschrieben.

Bei der Jahreszahl geht es um die Seele der Stadt

Heute, da in jeder europäischen Großstadt Bürger aus hundert Nationalitäten gemeldet sind und Dutzende Konfessionen ihre Gebetsstätten unterhalten, ist Vielfalt längst kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Und in Sarajevo wird der Anteil der muslimischen Bosniaken an der Bevölkerung der Stadt heute auf mehr als 80 Prozent geschätzt. Vor dem Krieg der Jahre 1992 bis 1995 waren es 49 Prozent. Was fehlt, sind vor allem die Serben, die vor dem Krieg knapp 30 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Es war kein plötzlicher Exodus; nach und nach gingen die Serben im Krieg und noch danach weg von hier – ins Ausland, wie auch viele Bosniaken, nach Belgrad oder nur in einen der serbischen Vororte. Es waren nur ein paar Schritte über die Miljacka zwischen den Stadtteilen Pofalici und Grbavica. Für die meisten aber wurde es eine Brücke ohne Wiederkehr.

Seit dem Krieg gehören die meisten Vororte zu einer Gemeinde namens Ost-Sarajevo. Sie hat kein Zentrum, nur eine helle, aber traurige Shopping-Mall am Rande der eigentlichen Stadt. Gleich neben den Straßenbahnschienen in der Innenstadt von Sarajevo steht hinter einer hohen, dunklen Mauer die alte orthodoxe Kirche, ein schlichter, harmonischer Bau. Man muss nur nach dem Alter der Kirche fragen, und schon trifft man einen wunden Punkt. „Die ist aus dem 13. Jahrhundert“, sagt mit dem Beben der Erregung in der Stimme Mirjana, eine Frau in den Fünfzigern, die im Pfarrhaus Ansichtskarten verkauft, „wenn nicht aus dem zwölften.“ Bei der Jahreszahl geht es um die Seele der Stadt. Sarajevo wurde gegründet im Februar oder März 1462 als Stiftung eines osmanischen Herrschers, bald nachdem die Truppen des Sultans Bosnien erobert hatten. Ob die orthodoxe Kirche da schon stand, ist umstritten. Wenn ja, waren die Türken die Eroberer, die Serben die Unterworfenen. Wenn nein, gehört den Muslimen die Stadt.

Von seinem Charakter jedenfalls war Sarajevo immer osmanisch: kein Schmelztiegel wie Städte im Westen, sondern ein Mosaik aus ethnisch und konfessionell gesonderten Wohnvierteln, die untereinander einen freundlichen, aber auch distanzierten Umgang pflegten. Jede Nachbarschaft oder Mahala hatte ihre eigene Mauer um sich herum. Wenn Eroberer kamen, lief das Volk nicht auf dem Markt zusammen. Man zog sich vielmehr zu den eigenen Leuten, den „naši“, zurück. Das war vernünftig, denn jede fremde Macht hatte eine fünfte Kolonne in der Stadt, die alle anderen fürchten mussten: Der Sultan hatte die Muslime, die wilden Heiducken die Serben und die Kaiserlichen die Kroaten sowie die Kaufleute aus Ragusa am Mittelmeer.

Karadžic, ein Kind der Stadt, cool wie seine ganze Generation

Anders als die älteren Städte Belgrad oder Saloniki wurde Sarajevo nach dem Abzug der Türken nicht „entosmanisiert“. Die Österreicher, die Bosnien 1878 einnahmen, achteten aus Furcht vor Rebellion sorgfältig darauf, das ethnische Gleichgewicht nicht zu stören. Nicht die Trennung stand im Vordergrund, sondern die Vielfalt. Unter den Hauptstädten Jugoslawiens war Sarajevo spätestens seit den achtziger Jahren die coolste. Sarajevo, schrieb der hier aufgewachsene Schriftsteller Miljenko Jergovic einmal, „war eine Stadt, die von niemandem verlangte, sich zu ändern“. So entstand kurz vor dem Bosnien-Krieg der Sarajevo-Kult – eine Mischung aus Sarkasmus, proletarischer Lässigkeit, schrottreifen Autos, Marihuana und viel Schnaps. Als die Bosnier 1990 erstmals frei wählen durften, siegten in Sarajevo die Sozialdemokraten, weil sie als einzige Partei ethnisch neutral auftraten.

Dann aber kam der Krieg. Rund um die Stadt, auf den vertrauten Bergen, sammelten sich die Artilleriestellungen der bosnischen Serben, unter ihnen Abenteurer aus Belgrad oder Kragujevac, Wien oder Stuttgart und viele zwangsrekrutierte Bauernsöhne. Es wurde die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Zwischen dem 2. Mai 1992 und dem 12. Oktober 1995 fielen im Durchschnitt 329 Granaten pro Tag auf die Stadt. Wie zum Sport legten sich Scharfschützen auf die Lauer und nahmen gezielt die wehrlosen Bürger der Stadt aufs Korn – beim Wasserholen, beim Hundausführen, zweimal sogar beim Anstehen auf dem Markt. 253 Zivilisten wurden wie Hasen erlegt, unter ihnen 60 Kinder.

Radovan Karadžic, der politische Anführer der bosnischen Serben, war ein Kind der Stadt gewesen, ein gefragter Psychiater, cool wie seine ganze Generation. Als mit ihm der Krieg kam, reagierte die Stadt wie immer: Wieder zogen sich alle in die Mauern ihrer Mahala zurück. Die Serben von Sarajevo gingen nach Grbavica oder nach Belgrad, die Kroaten nach Zagreb oder nach Deutschland. Die Muslime der Stadt blieben übrig – ausgeliefert dem zuweilen fragwürdigen Schutz ihrer Glaubensbrüder vom Lande, die die Bewohner an der Flucht hinderten. Geblieben ist der Sarkasmus. „Bice bolje!“ lautet noch immer der klassische Gruß unter Nachbarn und Kollegen: „Es wird besser!“ Aber während die Antwort früher lautete: „Das Schlimmste ist vorbei“, heißt es jetzt meistens bitter: „Das Beste ist vorbei.“

Zauber der Multikulti-Architektur

Wer die Wirtschaftsdaten studiert, kann da nur beipflichten. Geblieben ist auch der Geist der Mahala. Spott und Ablehnung trifft heute die „papci“, wie die vielen Neuankömmlinge vom Lande wenig schmeichelhaft genannt werden: die Huftiere. Alle Alteingesessenen wissen Geschichten und böse Witze vom Primitivismus der angeblich dummen, oft auch noch frömmelnden Provinzler aus dem Sandschak oder dem Podrinje zu erzählen, die auf die Straße spucken und die Straßenbahn verstopfen.Wie viele wirklich vom Lande gekommen sind, wird erst klar sein, wenn das Ergebnis der Volkszählung vom letzten Oktober vorliegt. Sicher ist, dass Sarajevo nur noch gut 300 000 und damit um ein Viertel weniger Einwohner hat als vor dem Krieg. Ganze Jahrgänge sind verschwunden.

Zur Nachkriegswirklichkeit gehören auch die neureichen Tycoons, die sich zur Verteidigung ihres Vermögens in die Politik begeben, die öffentliche Meinung manipulieren und sich von ihrer ländlichen Klientel wählen lassen. Hassfigur Nummer eins für die Altbürger ist Fahrudin Radoncic, Gründer und Eigentümer der größten Tageszeitung des Landes, Erbauer des spektakulären Twist Tower und bis vor wenigen Wochen Sicherheitsminister. Seine liebsten Anhänger sind junge arbeitslose Fußballfans in den Vorstädten.

Ganz untergegangen ist das alte Sarajevo trotzdem nicht. Die vielen jungen Rucksacktouristen aus Europa lassen sich nicht nur vom Zauber der Multikulti-Architektur einfangen. Der abendliche Corso auf der Ferhadija, der großen Einkaufsstraße, steht in voller Blüte. Es gibt sogar Zeichen für eine Wiedergeburt. Die Studenten aus dem Westen stoßen an jeder Ecke auf Gleichaltrige, die perfekt Deutsch, Niederländisch, Norwegisch oder Italienisch sprechen – fast eine ganze Generation hat ihre Kindheit im europäischen Exil verbracht. Die meisten wollen wieder weg, schon weil es keine Arbeit gibt. Man sucht schon sein Studienfach nach dem Markt im Ausland aus, nicht nach dem kaum vorhandenen in Bosnien selbst. Zur Welt gibt es in den Köpfen keine Grenze.

Sarajevo – jetzt total muslimisch?

Das gilt auch für die immer mehr jungen Frauen, die mit dem Kopftuch ihre muslimische Identität zeigen. Dass Sarajevo „jetzt total muslimisch“ geworden sei oder, neuerdings, „total österreichisch und antibalkanisch“, ist dagegen nicht viel mehr als eine „urban legend“, wie sie in allen Städten auftritt, die auf sich halten. Das Gerücht jedenfalls, die Stadt wolle zum 100. Jahrestag des Attentats auf den österreichischen Thronfolger im Juni ein Denkmal des ermordeten Franz Ferdinand aufstellen, erwies sich als frei erfunden. Das Attentat gilt als Anlass für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Als vor einigen Jahren erstmals Wissenschaftler „aus Europa“, wie man hier noch immer sagt, mit dem Bürgermeister über die anstehenden Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des berühmten Attentats sprechen wollten, zog Alija Behmen erstaunt die Augen hoch. „Zweitausendvierzehn? Da haben wir doch 30 Jahre Olympiade!“ Der Balkan, hat Winston Churchill einmal gesagt, hat mehr Geschichte, als er verdauen kann, und auch heute sagt man den Menschen hier nach, sie seien gern Opfer, um dann umso besser hassen zu können. Ausgerechnet für Sarajevo stimmt das nicht. Hier erinnert man sich öfter und lieber an die Winterspiele des Jahres 1984, als die Stadt in den unwegsamen Bergen Bosniens aller Welt ihre Schönheit zeigen durfte, denn an Mord und Tod.