Lea Ruckpaul (vorn) und Viktoria Miknevich in „Der Scheiterhaufen“ Foto: Thomas A urin

György Dragománs beschreibt in seinem Roman „Der Scheiterhaufen“, wie Siebenbürgen nach der Wende zum Schauplatz ethnischer Konflikte wird. Armin Petras hat die wortgewaltige Vorlage auf einzelne, eindringliche Erzählmotive reduziert.

Stuttgart - Eine junge Frau tanzt durch ein Meer aus Eiswürfeln. Wild wirft sie die Arme in die Luft, dreht sich im Kreis und schleudert ausgelassen ihre Kleider von sich. Dann plötzlich bleibt sie stehen und blickt beschämt zu Boden. Emma weiß, dass sie aufhören muss. Mit dem Tanzen, dem Sich-im-Kreis-Drehen, dem Mädchensein. Denn unter dem Eis liegen die Leichen des Bürgerkriegs.

In seinem Roman „Der Scheiterhaufen“ seziert der ungarische Autor György Dragomán mit bestechender Klarheit die Atmosphäre einer brutalen Umbruchphase in Siebenbürgen: Nach dem Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu flammten in der multikulturellen Region alte Nationalstreitereien wieder auf. Ungarische und serbische Minderheiten pochten auf kulturelle Autonomie, rumänische Nationalisten und Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten in bürgerkriegsähnlichen Ausmaßen – ein historisch verworrenes, kaum lösbares Durcheinander mit (damals) ungewissem Ausgang.

Eine finstere Erzählung von oft kaum erträglicher Genauigkeit

Mitten ins politische Chaos setzt Dragomán die 13-jährige Waise Emma. Durch ihre Kinderaugen wird der Blick auf die grausame Alltagsrealität des postrevolutionären Siebenbürgen besonders eindringlich: Weltgeschichte mit Sommersprossen. Denn während Emma scheu beobachtet, wie ihr Körper sich verändert und sich erste Jungs in sie vergucken, prasseln die brutalen Geschehnisse mit voller Wucht auf sie ein. So entsteht eine finstere Erzählung mit oft kaum erträglicher Genauigkeit und beeindruckend empathischer Zartheit.

Für die Bühnenversion reduziert Armin Petras den wortgewaltigen Roman auf einzelne, eindringliche Erzählmotive, er zeichnet die Entwicklung der Protagonistin in feinen Linien nach. „So etwas wie ein Europaprojekt im Kleinen“ sollte die Adaption des Romans werden, erklärt der scheidende Intendant. In Kooperation mit vier Spielstätten in Deutschland, Rumänien und Ungarn bildete er den tragenden kulturellen Konflikt auch strategisch nach, drei Versionen in der jeweiligen Nationalsprache mit je zwei Schauspielerinnen feierten Premiere im rumänischen Sibiu, in Budapest, in Dresden und schließlich – als Abschluss – in Stuttgart. Und obwohl von der angestrebten Internationalisierung auf der Bühne der Spielstätte Nord nicht mehr viel zu spüren ist, entwickelt das Stück dank Petras‘ reduzierten Bildern und der leichtfüßigen Präzision der beiden Hauptdarstellerinnen eine besondere Strahlkraft.

Souverän teilen Ruckpaul und Miknevich die Rollen unter sich auf

In einem riesigen Kupferbecken voller schmelzender Eiswürfel schlittern Lea Ruckpaul und Viktoria Miknevich mit oft wunderbar spontanen Improvisationen durch Emmas pubertäre Selbsterfahrung, die auf tragische Weise mit dem politischen Geschehen im postdiktatorischen Rumänien verknüpft ist. Von den Zusammenstößen mit der unterkühlten Dorfjugend über die erste Periode bis hin zur Liebelei mit einem traumatisierten Jungen – im klar akzentuierten Zusammenspiel der beiden Schauspielerinnen entwickeln sich die Bühnenepisoden zu zentralen Stationen des erschwerten Erwachsenwerdens.

Souverän teilen Ruckpaul und Miknevich die Rollen unter sich auf, springen immer wieder zwischen der Protagonistin und anderen Figuren hin und her, die am Rand des Beckens in sorgsam zusammengefalteten Kleiderbündeln auf ihren Einsatz warten. Dieser ständige Rollentausch auf der Bühne hat etwas Zerbrechliches und Zartes, das Emmas schwierigen Selbstfindungsprozess widerspiegelt, zugleich brechen Ruckpaul und Miknevich ihn mit ironischem Augenzwinkern. Statt die Künstlichkeit der Bühnensituation zu vertuschen, wird diese zum spielerischen Bestandteil der Inszenierung: Mal malt man sich mit in Richtung Publikum hochgezogener Augenbraue einen dunklen Bart ins Gesicht, mal wickelt man sich keck ein Tuch um den Kopf und grinst wissend in die erste Reihe.

Emma erbt eine Schuld, die sie nicht greifen kann

Besonders passend wirkt diese konzeptionelle Offenlegung, weil auch Emma selbst ständig zwischen dem Fassbaren und dem Unbegreiflichen festzustecken scheint – vor ihrer eigenen Zukunft steht sperrig und mit breiten Beinen die Vergangenheit. Ihr Großvater wird von der Dorfgemeinde, in der sie nach dem Tod ihrer Eltern mit ihrer schrulligen Großmutter lebt, als kommunistischer Spitzel verunglimpft. Und so wird Emma in all ihrer Verwirrung nicht nur mit sich selbst und den traumatischen Folgen der Revolution konfrontiert, sie bekommt dazu auch eine Schuld vererbt, die sie selbst nicht greifen kann und stattdessen als diffusen Berg mit durch ihre Pubertät schleppen muss.

Dafür, dass das Stück dennoch nicht zur langwierigen Mitleidssalve verkommt, sorgt Petras‘ Inszenierung mit einer eigenwilligen Mischung aus stiller Tragik und herrlich unprätentiöser Komik. So wird beispielsweise die traumatische Mobbing-Erfahrung der jungen Protagonistin, während der sie von ihren Schulkameradinnen halb nackt in der Umkleidekabine zurückgelassen wird, durch Ruckpauls kurze, sarkastische Bemerkung zu ihrer fragwürdigen Unterwäsche zum Umbruchmoment: Denn die eigentliche Hoffnung für die zarte Emma liegt in den kleinen, komischen Momenten, die sie in ihrer ausgezehrten Umwelt findet.

Statt sich von den Geschehnissen zum Opfer stilisieren zu lassen, nimmt sie letztlich selbst den Stift in die Hand und schreibt ihre Geschichte neu – und das ist doch zur Abwechslung mal eine schöne Botschaft.

Aufführungen: 1. 11., 3. 12.