Marco Massafra als Lehrer. Foto: J. Baumann

Warum steht die Kirche immer auf der Seite der Reichen? Das ist eine der Fragen, die Ödön von Horvaths Zeitromen verhandelt. Im Kammertheater ist er als spannendes Schauspiel zu erleben.

Stuttgart - Der Schüler N hat sich in einem Aufsatz rassistisch über „die Neger“ geäußert. Als sich der Lehrer darüber empört, gerät er unter Druck. Ns Vater wirft dem Lehrer „das Gift ihrer Humanitätsduselei“ vor. In einer Unterhaltung mit seinem älteren Kollegen, der „Julius Caesar“ genannt wird, spricht dieser vom „Zeitalter der Fische“, das angebrochen sei. Die Metapher passt auf den Schüler T, dessen kalter Blick an einen Fisch erinnert. In einem Zeltlager, in dem die Schüler von einem Feldwebel militärisch trainiert werden, wird N erschlagen.

Der Lehrer fühlt sich mitschuldig an dem Mord, weil er das Kästchen des Schülers Z aufgebrochen und dessen Tagebuch gelesen hat und N dafür verantwortlich gemacht wird. Z hatte notiert: „Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt.“ Zögernd gesteht der Lehrer vor Gericht, verdächtigt aber T des Mordes. Der erhängt sich unter dem Stress der Beobachtung. Am Schluss wandert der Lehrer nach Afrika aus, zu „den Negern“. Durchzogen ist diese Handlung von Reflexionen des Lehrers über die Gerechtigkeit Gottes. Er ist den Jugendlichen im Dritten Reich abhanden gekommen: „Jugend ohne Gott“. Aber auch den Lehrer plagen Zweifel. „Warum steht die Kirche immer auf der Seite der Reichen?“ fragt er den Pfarrer.

Die Warnung, die Ödön von HorváthsRoman von 1937 verkündet, könnte aktueller nicht sein, und er bietet sich mit seinen zahlreichen Dialogen für eine Bühnenbearbeitung an. Tatsächlich ist er schon mehrfach für das Theater eingerichtet worden, eine weitere Adaption der Berliner Schaubühne ist für die nächsten Salzburger Festspiele angekündigt, und auch verfilmt wurde er, am eindrucksvollsten von Roland Gall unter dem Titel „Wie ich ein Neger wurde“. Freilich darf man schon annehmen, dass ein erfahrener Dramatiker wie Horváth seine Gründe hatte, wenn er für einen Stoff die Form des Romans wählte, zumal ein vorausgegangener dramatischer Versuch mit Motiven des Romans Fragment geblieben ist. Der Roman wechselt zwischen Präsens und Präteritum. Im Drama kann über die Vergangenheit nur gesprochen werden. Was man sieht, ist Gegenwart.

Mehrdeutiges Verhalten

Zudem ist der Roman in der Ich-Form aus der Perspektive des Lehrers geschrieben. In ihrer Bearbeitung haben Zino Wey, der auch Regie führt, und seine Dramaturgin Gwendolyne Melchinger seine Rede auf mehrere Stimmen verteilt. Rolle und Text klaffen zeitweilig auseinander. Zu Beginn begegnet man dem Lehrer mit sehr heutigen Schülern in hellblauen Kapuzenpullovern. Sie geben sich zornig und aggressiv. Wenn der Lehrer das Tagebuch aus dem aufgebrochenen Kästchen liest, steht Z daneben und spricht laut, was darin steht.

Bis auf Marco Massafra als Lehrer verkörpern die Darsteller – Robert Rozic, Julian Lehr, Daniel Fleischmann und Sebastian Röhrle – und die einzige Darstellerin, Celina Rongen, mehrere Rollen. Konsequent wird auf antipsychologisches, statisches Spiel und ein mechanisches, monotones Sprechen geachtet. Dazu erklingt über weite Strecken eine verhaltene Geräuschkulisse. Die Methode kann sich auch auf den Text berufen. Der Lehrer, lügt T, trage den Spitznamen „der Fisch“, weil er immer so ein unbewegliches Gesicht habe.

Was eher spröde begonnen hat, gewinnt zunehmend an Intensität. Das Bühnenbild von Davy van Gerven zeigt von der Decke mit der Spitze nach unten hängende Riesenbleistifte – ein Bleistift wird neben einem Kompass bei der Suche nach Ns Mörder als Beweisstück präsentiert – und vier ebenfalls herabhängende Metallröhren vor einer Wand aus Laminat mit einer schmalen ockerfarbenen Tür und einem runden Behälter für einen Wasserschlauch. Ein mehrdeutiger Ort – so mehrdeutig wie das Verhalten des Lehrers, der, wie es am Schluss dann heißt, als Neger zu den Negern fährt.

Aufführungen am 29. und 30. November.