Jan Frier fährt mit der Stadtbahn durch Stuttgart. Er ist Hartz-IV-Bezieher. Einen richtigen Job sucht Frier seit Jahren vergebens: Auf viele seiner 550 Bewerbungen wurde gar nicht erst geantwortet. Foto: Florian Gann

Viele Hartz-IV-Empfänger können aufatmen. Künftig müssen sie keine drastische Kürzung ihrer Leistungen mehr fürchten. Jan Frier weiß, dass man sich auch ohne Sanktionen oft klein fühlt.

Stuttgart - Jan Frier weiß, was es heißt, von Hartz IV zu leben. Schon der Regelsatz von 424 Euro bedeutet für den Stuttgarter: „Man ist auf den Billigkram im Discounter angewiesen.“ Seine Freundin zum Essen ausführen? Geht nicht. In den Urlaub fahren? Wenn seine Bekannten im Sommer ans Meer fahren, passt er auf ihre Katzen auf.

So wie Frier geht es Tausenden Deutschen. Und manche hat es bisher sogar noch härter getroffen – wenn die Bundesagentur für Arbeit ihre Bezüge um bis zu 60 Prozent oder im Extremfall sogar komplett gekürzt hat. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag jetzt aber verboten.

60 Prozent weniger, das bedeutete bei Alleinstehenden, dass nur noch 170 Euro blieben. Was hieß das bisher für einen Hartz-IV-Empfänger? „Für den ein oder anderen bedeutet das, auf der Straße zu stehen“, sagt Frier. Der 60-Jährige weiß, was es bedeutet, wenn man von wenig Geld noch etwas wegnimmt, auch wenn er selbst nie sanktioniert wurde. „Eine solche Kürzung zieht einen ganzen Rattenschwanz nach sich.“ Die Miete würde man vielleicht noch für einen Monat zusammenkratzen, aber eine Sanktion gilt immer für drei Monate. Bis zur Wohnungskündigung würde es dann nicht mehr lang dauern. „Vom Existenzminimum kann man nichts mehr kürzen“, sagt Frier deswegen.

Im Schnitt wurde um 123 Euro gekürzt

In den Jobcentern in Baden-Württemberg liegt die Sanktionsquote bei 2,6 Prozent. Im Bundesschnitt sind es mit 3,2 Prozent wesentlich mehr. Das heißt: Knapp 8000 der 207 600 Hartz-IV-Bezieher im Land mussten mindestens eine Sanktion hinnehmen. Im Schnitt wurde ihnen 123 Euro ihres Leistungsanspruches gekürzt. Bei zwei Drittel der verhängten Strafen war der Grund ein Meldeversäumnis, Bezieher sind also nicht zu Terminen erschienen.

Wer verstehen will, warum Menschen Termine versäumen, muss sich in das Leben eines Hartz-IV-Empfängers wie jenes von Jan Frier hineinversetzen. Bis 2003 hatte er seinen Traumjob bei einem Stuttgarter Verlag, arbeitete sich zum stellvertretenden Gruppenleiter hoch. Dann fiel er bei einer Welle von betriebsbedingten Kündigungen durch das Raster. Er machte sich mit einer Online-Gartenberatung selbstständig. Dann setzte ihn der Krebs außer Gefecht. Seine Firma konnte er nicht fortführen. Es folgten mehrere kleinere Jobs, immer befristet. Seit 2012 findet er nicht mal mehr eine solche Anstellung auf Zeit. Er arbeitet zwar nebenbei im Sozialunternehmen Neue Arbeit in der Filmproduktion. Aber er macht das ehrenamtlich. Ein richtiges Gehalt bekommt er dafür nicht. Seit sieben Jahren lebt er von Hartz IV, unzählige Male war er in dieser Zeit bei seinen Betreuern im Jobcenter.

„Man kommt sich entmündigt vor“

Die Situation im Jobcenter sei vergleichbar mit der Schule, sagt Frier. Man kriege gesagt, was zu tun sei. „Wenn ich mit 60 fragen muss, ob ich in Urlaub fahren darf, dann hat das für mich nichts mehr mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu tun“, spielt er aufs Grundgesetz an. In anderen Worten: „Man kommt sich entmündigt vor.“

550 Bewerbungen schrieb Jan Frier. Er bekam keine einzige Zusage. Wenn er wenigstens eine Absage erhielt, sei das zumindest eine kleine Anerkennung gewesen. Meistens passierte aber nicht mal das. Nach missglückten Bewerbungen immer wieder vor seinem Betreuer zu sitzen, ohne etwas vorweisen zu können, sei belastend, sagt Frier: „Da kommt man sich sehr klein vor.“ Er hielt durch, ohne einen Termin zu versäumen, sagt aber auch, er könne sich vorstellen, dass der ein oder andere aufgibt, jede Hoffnung verliert. „Und wenn man mal aufgegeben hat, interessieren einen auch die Termine nicht mehr“, sagt Frier. Auch er hätte an manchen Tagen daran gedacht, einfach liegenzubleiben. Aber er habe sich immer aufgerafft.

Menschen wieder an den Arbeitsmarkt heranführen

Christian Rauch, Geschäftsführer der Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg, hält die Termine für zumutbar. „Ich halte es für keine Überforderung, dass Grundsicherungsempfänger auf Einladungen der Jobcenter zumindest reagieren und – solange dies nicht erfolgt – auch zukünftig Leistungen im Einzelfall bis zu 30 Prozent gekürzt werden können“, sagt Rauch. „Dabei geht es nicht um eine Bestrafung, sondern – zielgerichtet eingesetzt – auch um eine Möglichkeit, Menschen wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen.“

Etwas anders sieht es der Stuttgarter Jobcenter-Chef Jürgen Peeß. Bei einer größeren Zahl von Sanktionen, die wegen mehrfacher Meldeversäumnisse verhängt werden, müssten die Jobcenter auch selbst „hinterfragen, woran das eigentlich liegt“, gibt er zu bedenken. Bei Hartz-IV-Empfängern, die wegen psychischer Probleme nicht auf Einladungen reagierten, seien Sanktionen hingegen „Unsinn“, sagt Peeß. Je eher die Betroffenen die Zusammenarbeit als sinnvoll erlebten, „desto weniger Sanktionen gibt es“.

Im Stuttgarter Jobcenter hat man ein Verfahren entwickelt, das die Lage der Hartz-IV-Empfänger berücksichtigt. So erlasse man nur Sanktionen, „wenn dies gesetzlich geboten ist“, sagt Jürgen Peeß. In diesen Fällen ist auch noch eine Anhörung des Betroffenen vorgesehen. Wenn dessen Gründe für das Versäumnis „plausibel“ sind, könne die Sanktion auch wieder aufgehoben werden, erläutert der Jobcenterchef. Und wenn die Leistungen ganz gestrichen werden müssten und dadurch womöglich der Verlust der Wohnung zu befürchten wäre, versuche man „durch aufsuchende Arbeit die Situation zu klären“, sagt Jürgen Peeß.

In Stuttgart werden nur 1,4 Prozent der Bezieher bestraft

Er sieht sich durch die geringe Sanktionsquote bestätigt – in Stuttgart werden nur 1,4 Prozent der Bezieher bestraft, im Südwest-Durchschnitt sind es fast doppelt so viele. Auch die finanziellen Einschnitte sind in Stuttgart niedriger als im Land. „Wir können unsere Aufgabe besser erfüllen, wenn wir die Vermittlungsarbeit so wertschätzend wie möglich gestalten. Das fördert und erhält die Motivation“, sagt Peeß.

Jan Frier fühlte sich immer gut behandelt, er hatte Glück mit seinen Betreuern. Ein sorgenfreies Leben hat er mit dem vollen Regelsatz trotzdem nicht. Und würde ihn eine der noch immer erlaubten Strafkürzungen von bis zu 30 Prozent treffen, würde es für ihn noch schlimmer. 120 Euro weniger im Monat würde das bedeuten – und damit zwei Wochen lang nur Nudeln mit Soße, sagt der Stuttgarter.

Bald ist Frier im Rentenalter, dann müsse er eher mit noch weniger Geld auskommen. „Größte Angst habe ich davor, dass irgendetwas Gesundheitliches kommt und ich teure Medikamente brauche. Das dürfte dann zu einem richtigen Problem werden.“