Katharinenhospital Foto: Zweygarth

Das Klinikpersonal gibt ein Konzert. Nebenan flüchtet ein Patient aus dem Katharinenhospital.

S-Mitte - Die Väter Stuttgarts empfangen mit Evergreens, gerade ist es Louis Armstrongs „What a wonderful world“. Die Väter Stuttgarts sind ein musizierendes Trio, einer von ihnen arbeitet im Hospital. Das ist der Zweck dieses Konzerts mit Reden und zwei eigens produzierten Videos: Zu zeigen, dass Mitarbeiter des Klinikbetriebs musikalisch sind. Sie haben eine CD veröffentlicht, mit Liedern quer durch den Musikgarten, egal ob Arie, Pop oder Chanson. Die Produktion hat ihr Arbeitgeber bezahlt, aus dem Etat für das „Ideenmanagement“.

Den Saal trennt nur die Sattlerstraße von der Rückseite des größten Krankenhauses der Region, des Katharinenhospitals. Bei Vollbetrieb sind 700 Betten belegt. Auf einem davon sitzt Peter C., dem die Welt an diesem Tag keineswegs wundervoll scheint. Selbstverständlich ist das Zufall, aber zu der Zeit, zu der das Konzert beginnt, streitet Peter C. mit einem Mann, den er für seinen Fallmanager hält. Für C. beginnt damit eine monatelange Leidensgeschichte.

Die Idee bei der Einführung des Fallmanagers war, dass sie Patienten durch den Medizinbetrieb lotsen. Für einen Fallmanager ist Peter C. ein typischer Fall, Mitte 70, ohne Angehörige im Krankenhaus. Wie viel er von Erklärungen über Diagnose und Therapie versteht, ist unklar. „Ich bin ein Mensch“, sagt Peter C. Später wird eine Ärztin ihm sagen, dass es keine Fallmanager gibt, nur Fallmanagerinnen.

Tilo Baderschneider – Spitzname: „der singende Hausmeister“

Nebenan singt, wem Gesang gegeben. Andreas Braun gehört dazu, zuständig für interne Kommunikation. Braun schmettert „Überall blühen Rosen“, die deutsche Übersetzung von Gilbert Becauds „l’important c’est la rose“. Oder Tilo Baderschneider – Spitzname: „der singende Hausmeister“. Wenn aus seinem beträchtlichem Volumen eine Arie schallt, scheinen die Säulen zu zittern, die den Saal tragen. Das Klinikum scheint bestens geeignet für seine geplante Bewerbung zum „Singenden Krankenhaus“ – eine internationale Bewegung, deren Ziel ist, zum Wohle von Patienten zu musizieren.

Peter C. will wissen, warum er zu einer weiteren Untersuchung geschickt wird. Er will wissen, was er hat. Er will wissen, ob es Krebs ist. Er fühlt sich herumgereicht, herumkommandiert. Er hat sich untersuchen lassen, er hat sich operieren lassen. Er dachte, es sei eine Krebs-OP, aber es ging nur um eine Gewebeprobe. Er wollte sich nie mehr operieren lassen. Vor vier Jahren wurde er mit der Diagnose Krebs eingeliefert, in ein anderes Krankenhaus. Die Chirurgen entfernten ihm Teile des Darms. Es gab Komplikationen und weitere Operationen. „Die haben mich verpfuscht“, sagt Peter C. Statt nach sechs Wochen wurde er nach sechs Monaten entlassen. Er wog noch 45 Kilo. Er konnte kaum stehen. Freunde erkannten ihn nicht. Noch heute geht er schleppend. Lieber will er auf ein paar Jahre verzichten, als das noch einmal zu erleiden. Er packt und geht.

Zwei Wochen später zeigt eine Ärztin Peter C. ein Bild. Hier sitzt der Kehldeckel, auf dem die Untersuchung „eine Vorstufe von Krebs“ ergeben hat. Der Deckel soll entfernt werden, dazu alle Lymphknoten im Hals, eventuell Teile der Kehle. Peter C. will wissen, was das für sein Leben bedeutet. Die Ärztin bittet, noch einmal draußen zu warten. Eine halbe Stunde später bleibt eine Laser-OP am Kehlkopf. Der Rest ist gestrichen oder überschrieben, von Hand. Unten sind noch mögliche Nebenwirkungen der Operationen aufgelistet: chronische Schmerzen, Verlust des Sprechvermögens, lebenslang künstliche Ernährung.

Die CD soll zur Finanzierung der Palliativstation beitragen

Das Konzert wäre in unterhaltsamer Festlichkeit dahin gegangen, wären nicht jene Ansprachen gewesen, in denen allzu oft vom Sparen die Rede war. Das Klinikum hat im vergangenen Jahr 8,5 Millionen Euro Verlust erwirtschaftet. Die CD, benannt „Sounds of Klinikum“, soll zur Finanzierung der Palliativstation beitragen. In deren Betten liegen Menschen, die kein Mediziner heilen kann. Ziel ist, ihnen die letzte Zeit ihres Lebens so angenehm wie möglich zu machen.

Warum jetzt doch? Diesmal hat Peter C. eine Nachbarin dabei, halb so alt wie er, und sie will das wissen: Die Tumor-OP ist problemlos verlaufen, aber warum ist Peter C. mit einem Blatt Papier in einem Umschlag entlassen worden, auf dem ein weiterer OP-Termin eingetragen ist und noch einer im November? Warum steht auf diesem Papier genau das, was auf dem vorigen gestrichen war? Und ist diese Operation nötig?

Nicht zwingend, sie ist aber eine Empfehlung, antwortet der Arzt, die Alternative seien regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen. Er ist einer der Oberärzte. Er entschuldigt sich mehrfach. Peter C. sagt, wenn es irgendwie geht, egal wie, will er sich nicht mehr operieren lassen. Er will nicht wieder Monate im Krankenhaus liegen. Anders formuliert: Er will sich die letzte Zeit seines Lebens so angenehm wie möglich machen. Der Arzt streicht die Operation wieder. Er sagt, dass sie alle zusammen im Krankenhaus sich häufiger daran erinnern müssten, dass Operationen für sie Alltag sind, aber dass sie für die Patienten eine vollkommen andere Bedeutung haben.

Für Peter C. haben sie diese: Am Abend vor dem Gespräch konnte er kaum gehen und sprechen, sein Hals schmerzte zu stark. Um tags darauf mit seinem Auto ins Hospital zu fahren, fühlte er sich zu schwach. Sechs Stunden nach dem Gespräch plaudert Peter C. mit Freunden. Die Schmerzen sind weg, sagt er, einfach weg. Sie sitzen beim Essen, in einem Biergarten in Beutelsbach. Er hat alle hergefahren.