Ein Vorbild: Nathan Charles Foto: Getty

Nathan Charles ist mit der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose auf die Welt gekommen. Die Ärzte gaben ihm zehn Jahre. Er hielt sich nicht daran. Heute ist der Australier einer der besten Rugby-Spieler der Welt. Dies ist seine Geschichte.

Stuttgart - Wenn alles so gekommen wäre, wie die Ärzte meinten, wäre Nathan Charles längst tot. Nathan Charles kam am 9. Januar 1989 in Sydney, Australien, auf die Welt. Die Ärzte diagnostizierten kurz darauf die unheilbare Erbkrankheit Mukoviszidose. Sie gaben ihm zehn Jahre.

27 Jahre ist das jetzt her.

Der Australier hat sich nicht an die Prognose gehalten. Nathan Charles ist heute 27 Jahre alt und in Down Under ein Sportstar. Wer ist Nathan Charles? Das ist er: „Mein Name ist Nathan Charles. Ich bin professioneller Rugby-Spieler. Ich wurde mit Mukoviszidose geboren.“ Das sagt er in einem Videoclip, in dem er seine außergewöhnliche Geschichte erzählt, die außerhalb Australiens noch kaum bekannt ist. Seine Geschichte vom Leben.

Der Australier ist der weltweit einzige Profi mit Mukoviszidose in einer Vollkontaktsportart wie Rugby. Rugby wird gespielt von Muskelbergen auf zwei Beinen, es ist ein andauernder Frontalcrash der Körper ohne jeglichen Schutz. Rugby ist eine der härtesten Sportarten der Welt, ein Sport für Männer mit der Figur eines Kleiderschrankes. Für Athleten, deren Physis in der Welt des Sports einzigartig ist. Rugby ist Sport im Grenzbereich.

Nathan Charles hat es bis in die Nationalmannschaft Australiens geschafft. Es ist nicht irgendeine Mannschaft in der Welt des Rugbys, sondern es ist eines der besten Teams der Welt. Aktuell ist das Team Dritter der Weltrangliste. 2014 debütierte Charles, kürzlich trug er wieder das Trikot der Wallabies, wie die legendäre Auswahl in Anlehnung an diese in Australien heimische kleine Känguru-Art genannt wird.

The Unstoppable.

Der Unaufhaltbare.

So nennen sie ihn.

Mukoviszidose ist trotz aller Fortschritte auf medizinischem Gebiet noch immer eine unheilbare Stoffwechselkrankheit. Die Lebenserwartung ist aufgrund besserer Therapiemöglichkeiten in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, sie liegt derzeit bei etwa 40 Jahren. Ein heute Neugeborenes mit Mukoviszidose hat eine gute Chance, das Rentenalter zu erreichen. Die Krankheit belastet die Lungen mit zähflüssigem Schleim, entsprechend erschwert wird die Atmung – und entsprechend fordernd ist Leistungssport. „An schlechten Tagen fühlt es sich an, als würde man durch einen Strohhalm atmen“, sagt Charles.

Wie Nathan Charles zum Rugby-Star wurde

Er hat eine etwas leichtere Form der Krankheit, trotzdem muss er bis zu 20 Tabletten am Tag nehmen. Vitamine, Nahrungsergänzungsmittel, Medikamente. „Im Vergleich zu anderen geht es mir gut.“ Hin und wieder trainiert er mit einer Sauerstoffmaske, um die Atemwege frei zu machen und die Lungenkapazität zu stärken. Dazu muss er stark auf Hygiene achten, denn Infekte können schwerwiegende Folgen haben: „Eine einfache Erkältung kann sich schnell zu einer komplizierten Lungenentzündung auswachsen.“

Er ist sich sicher, dass sein hartes Training die beste Medizin ist, um die Krankheit zu kontrollieren. Mit fünf Jahren begann er mit dem Rugby. Seine Eltern ermutigten ihn, die Ärzte unterstützten ihn und rieten ihm, an Kraft zuzulegen und sich viel zu bewegen, um die Atemwege am Laufen zu halten. Er spielte Rugby, Football, Tennis. Er legte an Kraft zu und konzentrierte sich bald auf Rugby. Heute wiegt der 27-Jährige stattliche 104 Kilo, verteilt auf 183 Zentimeter. „Viele Mukoviszidose-Kranke haben Probleme, Muskeln aufzubauen – das ist bei mir kein Problem.“

Charles ist ein Hooker, zu Deutsch: ein Hakler. Diese Aufgabe innerhalb eines Rugby-Teams ist kompliziert, stark vereinfacht gesagt ist der Hooker die entscheidende Figur im Gedränge, dieser genau definierten Rudelbildung im Rugby. Dort steht er in der ersten Reihe. Dazu kümmert er sich um die Einwürfe. Viele Muskeln und ein Stiernacken, um sich im Gedränge nicht zu verletzen, sowie Nervenstärke und Leidensfähigkeit gehören zum Anforderungsprofil. Nathan Charles hat von allem genug.

Er wird für Auswahlmannschaften nominiert, spielt mit 19 für den englischen Club Gloucester, von seiner Krankheit weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Die großen australischen Teams werden auf ihn aufmerksam. 2010 holt ihn das Team Western Force in die Super League, mit die beste Rugby-Liga der Welt. Dort spielen die Teams der südlichen Hemisphäre aus Südafrika, Neuseeland und Australien ihren Meister aus. 2008 gelingt ihm ein spektakulärer Versuch (Try) nach einem 80-Meter-Sprint übers Feld. Er wird in den erweiterten Kader der Nationalmannschaft berufen und schafft parallel zu seiner Profikarriere seinen Bachelor in Geschichte und Wirtschaft. 2011 macht er die WM-Vorbereitung mit, er schafft es aber nicht in den endgültigen Kader Australiens. 2012 bestreitet er alle 16 Spiele von Beginn an, am Ende der Saison wird er zum Spieler des Jahres seiner Mannschaft gewählt. Nach einer längeren Pause wegen Knieproblemen debütiert er im Juni 2014 im Spiel gegen Frankreich bei den Wallabies. „Wenn man sich die Symptome und üblichen Folgen von Mukoviszidose anschaut, sind das schlechte Aussichten für Sport“, sagte der Nationaltrainer Ewen McKenzie: „Nathan scheint alle Gesetze der Logik und Wissenschaft außer Kraft zu setzen.“

Wie er mit seiner Rolle als Vorbild umgeht

Nathan Charles hat mal erzählt, dass er mit Realityshows und Casting-Formaten nichts anfangen könne. Dort geht es nicht allein um Können, sondern um eine vermarktbare Geschichte. Irgendwas mit Emotionen, Trauer, Krankheiten, Todesfällen. „Jeder hat dort irgendeine tränenreiche Geschichte zu bieten, das macht mich wahnsinnig“, sagt er: „Ich hasse das.“

Im Grunde ist es ja das, für was Nathan Charles mit seinem Leben steht: eine berührende Geschichte. Mit dem Unterschied, dass ihn nicht die Geschichte erfolgreich macht, sondern er dank seiner sportlichen Leistungen Karriere macht und er erst mit zunehmender Prominenz offensiv seine Geschichte erzählt. „Ich will der Rugby-Spieler sein, der Mukoviszidose hat – und nicht der Mukoviszidose-Kranke sein, der auch Rugby spielt.“

Zu Beginn hatte das Kraftpaket deshalb seine Probleme mit der Geschichte um seine Krankheit gehabt. Er wollte allein für seine Leistungen auf dem Feld wahrgenommen werden, nicht wegen einer Krankheit, die er in sich trägt, für die er nichts kann. Es ist ein schmaler Grat zwischen aufrichtiger Bewunderung und Höflichkeitsapplaus. Über diesen Punkt ist Charles weit hinaus, er ist einer der Besten seiner Zunft. Wegen einer schönen Geschichte wird niemand Stammspieler in einer der besten Rugby-Ligen der Welt. „Als ich regelmäßig in der Liga spielte, habe ich mich auch besser dabei gefühlt, über die Krankheit zu sprechen. Denn ich hatte ja schon etwas erreicht.“

Der 27-Jährige setzt sich längst als Botschafter mit seiner inspirierenden Lebensgeschichte für andere eine. Er ist stark in der Mukoviszidose-Aufklärung engagiert, er sammelt Gelder, unterstützt Forschungen und macht mit seinem Exempel anderen Mut, wie zahlreiche Reaktionen von anderen jungen Patienten zeigen – auch wenn natürlich jeder Krankheitsverlauf individuell ist. „Ich fühle mich geschmeichelt, wenn das, was ich tue, andere Menschen inspiriert, mehr zu erreichen“, sagt Charles. „Das macht mich sehr stolz.“

Seit Oktober dieses Jahres spielt der Australier in Europa für den französischen Spitzenclub ASM Clermont Auvergne, eines der europäischen Topteams überhaupt. 2015 stand der Verein im Finale des Heineken-Cup, der Champions League im Rugby. „Ich möchte einmal zurückschauen und wissen, dass ich das alles aus eigener Kraft geschafft habe. Dass ich das geschafft habe, weil ich hart gearbeitet habe.“ Am 9. Januar wird Nathan Charles 28 Jahre alt.

Was ist Mukoviszidose?

Krankheit
In Deutschland leben etwa 8000 Betroffene mit Mukoviszidose, jedes Jahr kommen hierzulande rund 200 Kinder mit Mukoviszidose auf die Welt. Der Begriff Mukoviszidose setzt sich aus den lateinischen Wörtern „mucus“ (Schleim) und „viscidus“ (zäh) zusammen. Infolge eines Gendefektes wird in vielen Organen des Körpers ein sehr zäher Schleim produziert. Vor allem die Lunge und die Bauchspeicheldrüse, aber auch weitere Organe, zum Beispiel Leber oder Gallenblase mit den Gallenwegen, sind von der Erkrankung betroffen.

Behandlung
Mukoviszidose ist nicht heilbar, aber inzwischen gut behandelbar. Mukoviszidose-Patienten müssen ihr ganzes Leben lang Medikamente einnehmen, zum Beispiel Enzyme der Bauchspeicheldrüse, schleimverflüssigende Wirkstoffe und Antibiotika. Sie müssen regelmäßig inhalieren und täglich spezielle Atemtherapien durchführen, um den Schleim in den Atemwegen zu lockern. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt derzeit bei etwa 40 Jahren. Ein heute Neugeborenes hat eine gute Chance, das Rentenalter zu erreichen.

Ursache
Die Ursache für Mukoviszidose ist ein Fehler im Erbgut. Seit 1989 weiß man, dass dieser Fehler auf dem Chromosom 7 im sogenannten CFTR-Gen liegt (CFTR steht für Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator). Die Veränderungen im CFTR-Protein führen aufgrund des gestörten Salz- und Wassertransports dazu, dass ein zäher Schleim eine Reihe lebenswichtiger Organe verstopft. (Quelle und weitere Informationen zum Thema Mukoviszidose finden sich unter www.muko.info, der Seite des Vereins Mukoviszidose e. V.)

Verlauf
Der Schleim in der Lunge bietet einen Nährboden für Bakterien. Die Bakterien verursachen Entzündungen und zerstören dadurch langfristig das Lungengewebe. Verdacht auf Mukoviszidose besteht laut Experten auch, wenn ein Kind ständig hustet und bereits im Säuglingsalter an Lungenentzündung erkrankt. Der Krankheitsverlauf ist individuell sehr unterschiedlich. Es können einzelne oder viele Organe betroffen sein. Auch die Schwere der Krankheitsausprägung und damit die Lebenserwartung kann von Person zu Person stark variieren.