Oberliga, wir kommen! Am 25. Mai 1995 war die Überraschung perfekt. Foto: Archiv Marc Schieferecke

An diesem Montag vor 25 Jahren ist im SV Bonlanden erstmals ein Filderteam in die Oberliga aufgestiegen. Der Rückblick auf eine überraschende Erfolgsgeschichte mit mehreren Irrtümern.

Bonlanden - Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Das hat einst schon Wilhelm Busch gewusst. Und im Filder-Fußball mag ein jeder unter den nicht mehr ganz so Jungen und mit besserem Gedächtnis Gesegneter spontan zustimmend nicken, wenn er vom Thema der Geschichte hört, die wir an dieser Stelle aus gegebenem Anlass noch einmal aufleben lassen wollen. Sie jährt sich an diesem Montag zum 25. Mal. Es ist eine Art wahr gewordenes Märchen des Sports. Die Story eines Dorfvereins, der dem Establishment eine lange Nase dreht, von Bierkästen, Ballkunst und einer ungewöhnlichen Beleidigung – und auch von einem Abwehrchef, der zuletzt verdutzt am Flughafen stand.

Der für Jürgen Schnizler persönliche Nachklapp passt jedenfalls wie die Faust aufs Auge zu den sonstigen Überraschungen der damaligen Saison. Als der Routinier in Echterdingen aus dem Flieger steigt, widerfährt ihm ein unerwarteter Empfang. Ehefrau Brigitte schaut ihm eher erschrocken als erfreut entgegen. Und Töchterchen Jenny? Die Zweijährige bricht auf dem Arm der Mama gar in Tränen aus. Tenor: was will dieser fremde Mann von mir? „Meine eigene Tochter hat mich nicht mehr erkannt“, sagt Schnizler und lacht. Der Grund ist schnell ausgemacht: Er müsse „wohl furchtbar ausgesehen haben“.

Zwei Aufstiege in zwei Jahren

Fünf Tage Mallorca haben ihre Spuren hinterlassen. Genauer gesagt: fünf Tage und Nächte. Ballermann, Party ohne Pause. Doch man soll die Feste bekanntlich feiern, wie sie fallen. Im hiesigen Fall umso mehr. Die finale Mannschaftssause basiert auf nicht weniger als dem bis dahin größten Erfolg der Fußballhistorie des SV Bonlanden. In der Woche zuvor haben die Filderstädter die Sensation perfekt gemacht: Durchmarsch in die Oberliga, Aufstieg Nummer zwei innerhalb von zwei Jahren. Zum überhaupt ersten Mal steht damit eine Mannschaft von den Fildern in Deutschlands seinerzeit noch vierthöchsten Spielklasse. Hätte zum Beginn einer dieses Ergebnis prophezeit, er wäre als fußballerischer Analphabet belächelt worden. Genau so gut hätte man tippen können, dass Bayer Uerdingen oder der VfL Bochum Deutscher Meister wird.

Freilich: das Ganze unter der Rubrik „Wunder“ einzuordnen, wie von manch einem im Umfeld getan, wäre zu kurz gesprungen. Ein glücklicher Zufall ist der anhaltende Höhenflug nicht. Vielmehr ernten die Bonlandener den Lohn für ein unaufgeregtes Arbeiten: Während andernorts Aktionismus und Geldbeutel ein zunehmend schnelllebiges Geschäft dominieren, setzen die Verantwortlichen an der Humboldtstraße auf ein Kontrastprogramm aus Kontinuität und Bodenständigkeit. Hinzu kommt ein geschicktes Händchen bei der Personalpolitik. „Eigentlich hatten wir eine unscheinbare Truppe“, erinnert sich Schnizler. In der aber rackert jeder für jeden. Und die wenigen Neuverpflichtungen erweisen sich größtenteils als Volltreffer.

Da ist Schnizler selbst. Der 31-Jährige will nach diversen Oberliga-Jahren in Reutlingen und Pforzheim seine Spielerkarriere beenden – bis ihn der Anruf seines Ex-Teamkollegen Peter Starzmann erreicht. Schnizler lässt sich breit schlagen. „Ich dachte mir: na ja, dann halt noch für eine Saison ein bisschen weiter kicken“, sagt er. Das war, wie sich in fernerer Zukunft herausstellen wird, sein erster Irrtum in Bonlanden. Dazu aber später mehr. Aktuell ist damit der gesuchte Kopf für die Defensive gefunden.

Starzmann krempelt um

Und da ist vor allem auch besagter Starzmann. Der frühere Zweitliga-Akteur der Stuttgarter Kickers tritt im Verein seine erste Cheftrainerstelle an. Er beerbt den auf eigenen Wunsch geschiedenen Landesliga-Meistermacher Roland Bohl, und zwar mit einer Ankündigung, die gleich aufhorchen lässt: „Wir wollen vom Hobbyfußball ein bisschen mehr in Richtung Leistungssport.“ Gesagt, getan. Starzmann kommt, sieht und krempelt um. Raumdeckung und Abwehrviererkette sind die neuen Schlagworte. Das belebt, das weckt Neugier, es beinhaltet aber auch Konfliktpotenzial. In die bisherige Bonlandener Feierabendfußball-Gemütlichkeit platzt der Neue mit seinem professionellen Anspruch wie ein Symphonieorchester-Dirigent in den örtlichen Musikantenverein.

Symptomatisch eine Begegnung von einem der ersten gemeinsamen Trainingsabende: Als der Oldie Stefan Schwarz nach vollbrachtem Rasenpensum gerade mit der gewohnten Kiste Bier für die Mannschaft in den Jugendraum will, läuft er sich mit Starzmann beinahe über den Haufen – Letzterer nicht mit Flüssigem, sondern mit Taktiktafel und Magneten in der Hand. Während es die einen entspannt ausklingen lassen wollen, schwebt dem anderen noch eine Stunde Theorieunterricht vor. Selbstredend ohne alkoholhaltigen Begleiterscheinungen.

Bei Bedarf ein Tritt in den Hintern

Kann das gut gehen? Es kann. Beide Seiten gehen Kompromisse ein. Starzmann erweist sich in der Folgezeit nicht nur als akribisch werkelnder Taktikfuchs, sondern auch als Motivator und Menschenfänger. Er versteht es, je nach Bedarf auf der Klaviatur zu spielen. Den Torhüter Chris Bieber macht er zum Kapitän. Eher sensiblen Kräften wie dem Spielmacher Andy Walther gibt er Streicheleinheiten, anderen, zum Schlendrian neigenden Freigeistern wie einem Uwe Vohl, auch mal einen Tritt in den Hintern. Starzmanns Credo: „Wenn einer nicht kämpft, dann kriege ich den blanken Hass.“

Doch die Mannschaft kämpft. Und wie. Unter dem Coach präsentiert sie sich als verschworene Einheit. Dass der SV Bonlanden von seinen ersten acht Saisonspielen nur zwei mühsam gewinnt? Dass zur Hinrundenhälfte gerade mal Tabellenplatz zehn zu Buche steht? Es hat weniger mit unzureichenden Gesamtleistungen zu tun als einer anfänglichen Abschlussschwäche. Viel Aufwand, zu wenig Ertrag. Doch schon da ahnt Starzmann: „Es werden Gegner kommen, die von uns das Loch voll kriegen.“

Der Coup mit Vollmer

Er soll Recht behalten. Erst recht, als der Filderclub vor dem neunten Spieltag ein weiteres personelles Ausrufezeichen setzt. Nach Starzmann und Schnizler trägt der dritte Streich den Namen Ralf Vollmer. Entgegen aller vorherigen Bonlandener Dementis steigt der vormalige Kickers-Kapitän ein. Erneut nutzt Starzmann seine guten Kontakte. Vollmer gibt dem Werben seines Kumpels nach und lässt dafür finanziell weitaus lukrativere andere Angebote sausen. Von diesem Zeitpunkt an ist der SV Bonlanden nicht mehr der Klassenneuling, der unter dem Radar fliegt – er ist für die Konkurrenz der Obacht-Gegner mit dem ehemaligen Bundesliga-Profi als Frontfigur. Sein Debüt gibt der 32-Jährige just in Berlichingen, im Duell bei einem der hartnäckigen Mitbewerber um seine Dienste. Bei Vollmers Einwechslung ertönt ein Pfeifkonzert der Gastgeber-Fans.

Was bei dieser Begegnung noch keiner ahnen kann: Jene ist der Start eines Laufs, der in der Ligageschichte Seltenheitswert hat. 19 Spiele lang verlieren Starzmann und die Seinen nicht mehr. 33:5 Punkte heimsen sie in Serie ein. Natürlich nicht nur wegen Vollmer, aber nicht zuletzt auch dank ihm. Der Angreifer fügt sich fern jeglicher Starallüren als mannschaftsdienlicher Kilometerfresser ein. Er avanciert zum wichtigsten Torvorlagengeber. Vor allem sein Sturmpartner Karl Vlahek profitiert.

„Die Chance des Lebens“

Kurz vor Weihnachten gipfelt die Aufholjagd: Die Bonlandener stehen nach einem 3:0 gegen die Spvgg Renningen erstmals auf Rang eins. Und, um es vorwegzunehmen: sie geben diese Position während der gesamten Rückrunde nicht mehr ab. Schon in der Winterpause ist klar: Die Spieler haben Blut geleckt. Starzmann, der Ehrgeizige, nicht minder. Der Trainer versucht sich fortan im Spagat. Nach Außen hin bleibt es auf Wunsch des Abteilungschefs Kurt Adam bei den offiziellen Verlautbarungen. Thema Aufstieg? Quatsch! Spinnerei! „Wer hier von so etwas spricht, bekommt von mir ein paar an die Backen“, sagt Starzmann pflichtgemäß. In den eigenen vier Wänden schürt er das Feuer: „Das ist die Chance des Lebens, mit der sich jeder in die Vereinsgeschichte einschreiben kann.“ „Uns allen war bewusst, dass wir jetzt etwas Großes reißen können“, berichtet Schnizler.

Der 1:0-Sieg vor 1500 Zuschauern im Rückspiel gegen den Verfolger SV Berlichingen ist ein weiterer Meilenstein. Nach dem entscheidenden Last-Minute-Treffer von Thomas Vöhl haben die Bonlandener fünf Zähler Vorsprung – dies bei seinerzeit noch gültiger Zwei-Punkte-Regel. Eng wird es erst noch einmal, als besagter Vöhl, der „Lange“, einen Schienbeinbruch erleidet, sein Abwehrnebenmann Dirk Engelbertz sich einen Trümmerbruch des Stirnbeins zuzieht und Schnizler Rot sieht. Bei der ersten Niederlage seit siebeneinhalb Monaten, einem 0:3 gegen den späteren Vizemeister FC Wangen, beleidigt der Routinier einen der Linienrichter. Nach einer strittigen Entscheidung schnauzt er den korpulenten Herrn in Schwarz an, ob er nichts zum Mittagessen bekommen habe.

Matchball gegen Böblingen

Geht dem Überraschungsteam seinerseits auf der Zielgeraden doch noch der Brennstoff aus? Knapp zwei Wochen später folgt die endgültige Antwort: nein. 25. Mai 1995, letzter Spieltag, zuhause gegen die SV Böblingen: ein 2:2 reicht. Matchball, das war’s. Der extra verpflichtete VfB-Stadionsprecher Werner „Sloggi“ Find heizt die Stimmung an. Die Filder-Zeitung titelt: „Oberliga – der SV Bonlanden ist da!“ Während die ursprünglich Hochgewetteten aus Heilbronn, Ravensburg und Marbach im Tabellenkeller dümpeln, knallen an der Humboldtstraße die Korken. Und das exakt passend zum 100-Jahr-Jubiläum des Vereins.

Bis heute sind die Bonlandener, nach dann auch wieder zwischenzeitlichen Abstiegen, insgesamt fünfmal in die Oberliga aufgestiegen. Der erste Coup von vor 25 Jahren, das sieht nicht nur der Recke Schnizler so, war der spektakulärste, weil am wenigsten erwartete.

Und Schnizler muss es beurteilen können. Schließlich war er dann noch ein bisschen länger dabei als gedacht. Aus dem geplanten einen Abschlussjahr sind neun geworden. So viel zum Thema weiterer Irrtum. Ehefrau Brigitte gab jeweils das Einverständnis. Wie Töchterchen Jenny reagiert hat, ist nicht bekannt.