Schatten über der Rhythmischen Sportgymnastik: Statt sportlicher Leistungen standen zuletzt schwere Vorwürfe gegen Trainerinnen im Foto: Getty

Härte, Beleidigungen und Körperverletzung – das soll in der Rhythmischen Sportgymnastik an der Tagesordnung gewesen sein. „Wir haben Konsequenzen aus den Vorwürfen gezogen“, meint Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turnerbundes (DTB).

Herr Brechtken, im September findet in Stuttgart die Weltmeisterschaft in der Rhythmischen Sportgymnastik statt. Turnen Sie sich schon ein?
Natürlich. Die Vorfreude ist sehr groß. Zuletzt mussten wir zwar einige Probleme lösen, aber die Dinge sind auf einem positiven Weg, und nun überwiegt die Vorfreude.
Mit den Problemen, die Sie ansprechen, meinen Sie die Vorwürfe zweier Gymnastinnen gegen Trainerinnen. Es geht, kurz zusammengefasst, um Beleidigungen und Körperverletzung. Können Sie mittlerweile mehr zu diesen Fällen sagen?
Die Ermittlungen laufen noch. Die Trainerinnen haben die Vorwürfe bestritten. Wir haben aber unabhängig von der Frage, ob die Anschuldigungen zutreffen oder nicht, gesagt: Wir brauchen personell und strukturell einen Neuanfang.
Dennoch sind solche Vorwürfe nicht gerade Werbung für eine Sportart – gerade so kurz vor einer WM.
Die Menschen haben wahrgenommen, dass wir als Verband die Probleme, die es offensichtlich gegeben hat, nicht weggeschoben, sondern sehr ernst genommen und Konsequenzen daraus gezogen haben – zum Beispiel personell, aber auch in ganz vielen anderen Bereichen.
Was genau wurde verändert?
Es sind drei wesentliche Maßnahmen, die wir umgesetzt haben, um die Fehler, die sich herausgestellt haben, zu beseitigen. Als Erstes haben wir Michael Breuning als Standortmanager in Schmiden installiert, damit Probleme frühzeitig erkannt und Konflikte schnell gelöst werden. Zudem wird das Training künftig pädagogisch und psychologisch begleitet. Und drittens wäre da die wissenschaftliche Seite. Das Problem dieser Sportart besteht ja darin, dass es eine ungemeine Anzahl an Wiederholungen gibt. Unsere Auffassung war es, dass es zu wenig Wechsel zwischen Entlastung und Belastung gibt. Deshalb legen wir nun sehr viel Wert auf die wissenschaftliche Trainingssteuerung. In dieser Sportart gibt es diesbezüglich noch relativ wenige Erkenntnisse. Dieses Programm gehen wir gemeinsam mit dem Olympiastützpunkt an. Und es gibt noch einen vierten Punkt, der ganz wichtig ist.
Was für einen?
Es geht um die Verbesserung der Internatssituation in Schmiden. Bisher sind die Mädchen fremdverpflegt worden. Wir sind deshalb gerade in Verhandlungen wegen einer eigenen Essensbereitstellung, um das berühmte Problem der Ernährung besser steuern zu können. Es hat sich Entscheidendes verändert.
Haben Sie eigentlich, nachdem die Vorwürfe aufgetaucht sind, auch mit anderen Athletinnen oder mit Ehemaligen gesprochen?
Natürlich. Es gab sehr viele Gespräche. Ich bin da sehr offen, und jeder Hinweis, der für mich eine Qualität hat, wird von mir auch aufgegriffen.
Gab es denn in den Gesprächen neue Vorwürfe?
Nein, keine neuen Vorwürfe, aber viele gute Anregungen, die in die Veränderungen eingeflossen sind.
Was für welche?
Ich glaube, der entscheidende Punkt war, dass eine Mentalität vorhanden war, die sehr stark von Härte, Druck und Wiederholungen geprägt gewesen ist. Dann stand da noch eine Waage in der Halle, die ständig an das Gewicht erinnert hat. Leistungssport ist zwar schon etwas Spezifisches. Nicht nur Begabung zählt,  sondern vor allem Fleiß. Aber es geht auch darum, ein positives Klima zu erzeugen. Meine These ist, dass die Leistungsfähigkeit in einer positiven Umgebung höher ist als in einer von Angst geprägten.
Hätten diese ganzen Veränderungen nicht schon viel früher passieren müssen? Die Rhythmische Sportgymnastik stand noch nie im Verdacht, dass es zimperlich zugeht.
Es ist nicht so, dass wir diese Stimmung nicht gespürt haben. Wir waren ja auch schon dran, die Trainingssteuerung einzuführen, aber das dauert seine Zeit. Die Vorwürfe kamen mitten rein und haben die Sache noch einmal beschleunigt.
Haben Sie von den konkreten Vorfällen nichts mitbekommen? Bei der WM in Montpellier 2011, wo eine Gymnastin von ihrer Trainerin geschlagen worden sein soll, waren Sie vor Ort.
In diesem Fall steht Aussage gegen Aussage. Niemand hat damals etwas mitbekommen. An die Mannschaftsleitung sind keine Vorwürfe herangetragen worden. Ich habe auch nichts in der Stimmung der Beteiligten gemerkt. Alle waren damals sehr euphorisch, weil sich die Gruppe direkt für die Olympischen Spiele qualifiziert hatte und im Einzel die Chancen auf Olympia durch die Qualifikation für die Vorolympischen Spiele gewahrt wurden.
Haben Sie sich auch nie über die Waage in der Halle gewundert?
Die Gewichtsfrage ist wohl überpointiert worden. Natürlich müssen Spitzensportler auf ihr Gewicht achten, alle im Spitzensport, aber das muss man vernünftig einbauen und darf es nicht überbetonen. Michael Breuning hat ja symbolhaft gleich an seinem ersten Tag in Schmiden die Waage aus der Halle geschmissen, um zu erreichen, dass es bei allen klick im Kopf macht. Das Gewicht ist Teil der Gesamtstrategie, und als solches sollte man es auch behandeln. Das ist gut gelungen.
Es wurde auch immer wieder berichtet, dass die Mädchen nach dem Training weinend die Halle verlassen haben.
Es ist wohl so, dass Konflikte offensichtlich nicht frühzeitig aufgegriffen worden sind.
Haben Sie sich nicht auch selbst hinterfragt, ob Sie als Präsident nicht früher hätten eingreifen müssen?
Wir haben, unmittelbar nachdem die Vorwürfe erhoben worden waren, konsequent gehandelt.
Aber Sie als Chef haben eine Gesamtverantwortung.
Natürlich bin ich verantwortlich, deshalb hat mich das alles auch sehr umgetrieben und deshalb haben wir in erheblichem Umfang Maßnahmen eingeleitet. Unsere zentrale Verantwortung ist es, organisatorische und personelle Voraussetzungen für ein verantwortbares Leistungstraining zu schaffen.
Wenn Sie die Vorgänge so umgetrieben haben, haben Sie dann auch mal an Rücktritt gedacht?
Nein, ich habe nicht an Rücktritt gedacht. Persönlich hätte ich mir dann Vorwürfe machen müssen, wenn wir nicht reagiert hätten. Aber das haben wir. Unabhängig davon, dass Aussage gegen Aussage steht.
Sie haben kürzlich vorgeschlagen, eine Art Ombudsfrau einzusetzen, die als Ansprechpartnerin für die Athletinnen fungiert. Was ist aus diesen Plänen geworden?
Wir haben in der letzten Präsidiumssitzung beschlossen, sie einzusetzen. Sie ist Juristin und kommt aus dem Leistungssport, aber sie ist nicht mit dem Turnerbund verbandelt. Wir werden zuerst die Athletinnen und Athleten unterrichten und dann die Öffentlichkeit.
Wie werden ihre Aufgaben aussehen?
Alle unsere minderjährigen Kaderathleten – also auch Turner und Trampolinturner – und ihre Eltern können sich vertraulich an sie wenden. Und sie hat das Recht, überall Einblick zu nehmen, um Konflikte aufzugreifen und Lösungsvorschläge zu machen. Jetzt müssen wir abwarten, wie das angenommen wird. Es soll auf jeden Fall ein Signal sein. Sie sehen, wir haben einiges auf den Weg gebracht und können uns jetzt ganz in die Vorbereitung für die WM hineinbegeben.
Haben sich die ganzen Diskussionen eigentlich auf den Ticketverkauf oder die Sponsorensuche für die WM ausgewirkt?
Der Ticketverkauf hat gerade erst begonnen, da können wir noch nicht viel sagen. Und dass wir es mit den Sponsoren im Turnen immer schwerhaben, ist ja bekannt. Wir haben eben eine Landschaft, die von einer Sportart dominiert wird. Da muss man immer kämpfen.
Gibt es denn Probleme bei der Finanzierung?
Wir bekommen das hin. Ein bisschen hängt das natürlich auch vom Zuschauerzuspruch ab. Aber da bin ich optimistisch. Stuttgart hat ein ausgezeichnetes Publikum.
In Schmiden haben die Auswirkungen jedoch dazu geführt, dass die Hallenerweiterung auf Eis liegt.
Aber sie soll dieses Jahr noch beschlossen werden. Die Stadt Fellbach hat die Mittel bereits im Haushalt eingestellt. Wir müssen zeigen, dass es positiv weitergeht. Das halte ich durchaus für berechtigt. Kurz vor oder nach der Sommerpause soll der Baubeschluss gefasst werden. Wir haben auch bereits vom Land und Bund die Zusage, dass die Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Lassen Sie uns bezüglich der WM noch auf das Sportliche blicken. Gibt es Probleme in der Vorbereitung, weil die Trainerstellen so lange verwaist waren oder noch sind?
Nein, bisher hatte das keine großen Auswirkungen, weil das Training gesichert war. Was die Nachfolge von Galina Krilenko betrifft, ist der Schwäbische Turnerbund zudem gerade in sehr guten Gesprächen. Und als Teamchefin haben wir bei unserer letzten Sitzung Katja Kleinveldt bestimmt. Sie soll sich als Teamchefin um die gesamte Koordination kümmern.
Was erwarten Sie denn von den deutschen Athletinnen?
Es  geht bei dieser WM um die Olympia-Qualifikation. Wir werden deshalb sportlich gesehen das beste und bedeutendste der Welt erleben. Hervorragender Sport wartet auf uns. Für unsere Athletinnen erwarte ich mir natürlich einen Schub für die eigene Qualifikation und dass wir uns in Stuttgart mit der Mannschaft direkt für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro qualifizieren. Ich hoffe zudem, dass wir mit ein bisschen Glück auch einen Platz im Einzel gewinnen.