Innenminister Thomas Strobl hält den Rettungsdienst im Land für gut aufgestellt – will aber an entscheidenden Stellen Änderungen. Foto: dpa

Die Notfallrettung im Land steckt in Schwierigkeiten. Gesetzliche Vorgaben werden verfehlt, es mangelt an Personal und passenden Strukturen. Von vielen Seiten kommt Kritik. Innenminister Thomas Strobl kündigt eine Reform an.

Stuttgart - Die Notfallrettung im Land steckt in Schwierigkeiten. Gesetzliche Vorgaben werden verfehlt, es mangelt an Personal und passenden Strukturen. Von vielen Seiten kommt Kritik. Innenminister Thomas Strobl kündigt eine Reform an.

Herr Strobl, von Experten, Mitarbeitern und Medien hagelt es Kritik am Rettungssystem in Baden-Württemberg. Müssen sich Patienten Sorgen machen?
Sorgen muss sich wirklich niemand machen, der Rettungsdienst im Land ist gut aufgestellt. Alle Menschen, die auf den Rettungswagen, in den Leitstellen oder bei unseren Hilfsorganisationen tätig sind, leisten hervorragende Arbeit. Ihnen gilt mein großer Dank. Wenn jemand in Baden-Württemberg Hilfe benötigt, dann ist im Schnitt sieben Minuten nach der Alarmierung ein Rettungswagen bei ihm. Zudem haben wir dabei die gesamte Rettungskette im Blick. Wir schauen nicht nur auf die gesetzliche Hilfsfrist, nach der in 95 Prozent der Einsätze die Retter in höchstens 15 Minuten da sein müssen. Bei uns ist man bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt im Schnitt in 46 Minuten in der Klinik. Das ist ein guter Wert – deutlich innerhalb der sogenannten „golden hour“.
Nun ist es mit Mittelwerten so eine Sache. Wer im ländlichen Raum wohnt, kann von einer schnellen Rettung oft nur träumen. Und viele Rettungsdienstbereiche im Südwesten halten die 15-Minuten-Vorgabe seit Jahren nicht ein.
Unsere gesetzlichen Regelungen gehören bundesweit zu den strengsten. Mit Vorgaben, wie sie etwa in Rheinland-Pfalz oder Bayern gelten, gäbe es auf der Landkarte von Baden-Württemberg keine oder nur wenige rote Stellen. Außerdem haben wir gerade für den ländlichen Raum die Helfer-vor-Ort-Systeme geschaffen. Diese Helferinnen und Helfer können in den ersten fünf Minuten da sein – auf sie kommt es entscheidend an.
Woher kommen dann die Schwierigkeiten?
Natürlich stehen wir im Rettungsdienst vor großen Herausforderungen. Wir haben in der Vergangenheit die Kapazitäten erhöht, aber sie wurden Jahr für Jahr durch steigende Einsatzzahlen aufgezehrt. Dazu tragen auch gesellschaftliche Veränderungen bei. Denken Sie etwa an die Alterung der Bevölkerung, die mehr Einsätze bringt, den Mangel an Ärzten oder die Probleme, genügend Fachkräfte für die Besetzung der Rettungswagen zu finden.
Gab es 2017 Verbesserungen?
Es liegen noch keine belastbaren Zahlen vor. Die Daten werden derzeit von unserer Qualitätssicherungsstelle erhoben.
Diese Qualitätssicherungsstelle gibt es seit einigen Jahren. Experten loben ihre Arbeit, bemängeln aber, dass daraus noch keine Konsequenzen gezogen werden.
Diese Stelle ist bundesweit einmalig. Wir haben damit im Rettungsdienst totale Transparenz geschaffen. Bei uns werden alle Einsätze sauber dokumentiert. Das ist eine wichtige Grundlage, um Probleme zu erkennen. Die Daten stehen den Verantwortlichen vor Ort zur Verfügung, damit sie daraus zielgerichtete Veränderungen einleiten können.
Die Daten kommen von den Leistellen. Die werden von den Hilfsorganisationen, meist dem Deutschen Roten Kreuz, geführt. Fachleute fordern eine Reduzierung der Leitstellen und eine Überführung in staatliche Trägerschaft. Kommt ein solches Leitstellengesetz?
Wir brauchen zeitgemäße und vernetzte Leitstellen. Mit vergleichbarer Software, Technik und einer Datenauswertung durch eine neutrale Stelle, dazu einer hohen Cybersicherheit. Eine Lenkungsgruppe in unserem Haus begleitet diesen Prozess. Am Ende könnte tatsächlich ein Leitstellengesetz eine neue Grundlage bilden.
Wann wird das sein?
Eine neue Leitstellenstruktur zu erarbeiten, ist kein einfaches Thema. Wir werden das deshalb ohne Zeitdruck, mit der notwendigen Sorgfalt und sehr konsequent Schritt für Schritt tun. Und in enger Abstimmung mit allen Akteuren.
Weil das Rote Kreuz, dem manche eine Art Monopolstellung nachsagen, sich mit neuen Strukturen nicht anfreunden könnte? Böse Zungen behaupten, über den Rettungsdienst bestimmt nicht die Politik, sondern das DRK.
Die Verantwortung für den Rettungsdienst in Baden-Württemberg liegt bei der Landesregierung. Es gibt viele Partner, die in der täglichen Arbeit das Bestmögliche leisten. Mein Ziel ist, mit allen gemeinsam den Rettungsdienst besser zu machen.
Gehört dazu auch eine fachliche Aufsicht? Die fehlt im Land bisher komplett.
Wir haben im Doppelhaushalt 2018/19 vier neue Stellen für einen Ärztlichen Leiter Rettungsdienst geschaffen – eine pro Regierungspräsidium. Sie werden noch in diesem Jahr besetzt. Damit werden wir die fachlich-medizinische Kontrolle verbessern. Und wir werden damit die Rechtsaufsicht stärken.
Die Selbstverwaltung in Baden-Württemberg, bei der Retter und Krankenkassen die Kapazitäten verhandeln, ist ziemlich einzigartig. Sie wollen sie also nicht abschaffen und in staatliche Hände geben?
Nein, wir wollen die Selbstverwaltung nicht abschaffen. Aber wir wollen einen Rettungsdienst aus einem Guss. Dazu gehört, mit einer bereichsübergreifenden, landesweiten Planung die Rettungswagen bestmöglich im Land zu verteilen. Wir werden die Kirchturmpolitik im Rettungsdienst beenden.
Gehört dazu auch, die Bereiche Notfallrettung und Krankentransport zu trennen? Dort gibt es viele Überschneidungen, die für die Patienten oft stundenlange Wartezeiten bedeuten.
Der Krankentransport ist ganz anders als ein Rettungseinsatz. Deshalb bin ich dafür, die Methoden, mit denen die jeweiligen Einsätze in den Leitstellen geplant werden, zu trennen. Der Krankentransport muss viel stärker nach Methoden von Transport- und Logistikunternehmen geplant werden. Dazu kommt, dass die Krankenkassen den Krankentransport angemessen bezahlen müssen. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Krankenkassen mit den Hilfsorganisationen bald einigen. Das ist leider bisher nicht der Fall. Deshalb ist klar: Wenn es zu keiner Einigung in der Selbstverwaltung kommt, müssen wir das staatlicherseits lösen.
Selbst wenn Sie all die Baustellen beheben: Es bleibt ein großes Personalproblem. Wegen der längeren Ausbildung zum neuen Notfallsanitäter fehlt ein kompletter Jahrgang. Die Rettungsorganisationen suchen mit Kopfprämien nach Mitarbeitern. Greift das Land ein?
Wir haben momentan ein Personalproblem, doch das gehen wir aktiv an. Wir haben die jährliche Ausbildungskapazität auf 400 Leute gesteigert. Damit reagieren wir auf die erhöhte Nachfrage. Als schön empfinde ich dabei, dass wir keinen generellen Nachwuchsmangel haben, obwohl es in der Wirtschaft viele attraktive und gut bezahlte Jobs gibt. Viele junge Frauen und Männer interessieren sich für eine sinnstiftende Tätigkeit als Retter. Deshalb: Ja, wir mögen gerade in einer Talsohle sein – aber es geht bergauf.
Was sagen Sie also den Patienten: Wie sicher sind sie in Baden-Württemberg?
Sie können sich sicher fühlen. Und da, wo es noch Herausforderungen gibt, arbeiten wir tagtäglich daran, dass es noch besser wird.

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