Julien Walther bereist die Welt, um gute Speisen kennenzulernen. Foto: Andrea Thode

Der Hamburger IT-Unternehmer Julien Walther hat sich der Sterne-Küche verschrieben. In seinem Blog Trois etoiles berichtet er von seinen Restaurant-Erfahrungen.

Hamburg - Das Maß für ausgezeichnete Küche ist nach wie Frankreich, sagt Julien Walther. Bei seinen Exkursionen ins Reich der Kulinarik hat auch festgestellt, dass die Deutschen nach wie vor ein problematisches Verhältnis zum Essen haben.

Herr Walther, Wie sind Sie, was das Essen betrifft, aufgewachsen?
Mein Vater ist Franzose, meine Mutter Deutsche, ich erlebte recht früh Offenheit für Essen und gute Küche. Dazu gehörte Tischkultur: Salat, warmes Hauptgericht, Käse und Wein. Als Student habe ich mich eher schnell und billig ernährt, was mir aber nie gefallen hat – doch ich hatte andere Dinge im Kopf.
Gab es ein Schlüsselerlebnis, bei dem Sie feststellten, was gutes Essen in Ihnen auslöst?
Ja, das war im Restaurant L’Arnsbourg im Elsass, einem magischen Ort, abgelegen, kein Handyempfang. Am Nachmittag bin ich durch den Wald gelaufen, habe Hirsche rufen hören und das Aroma der Tannen gerochen. Das prägende Erlebnis kam während des ohnehin schon hervorragenden Abendessens dann völlig unerwartet beim Dessert, einem Eis, das mit Fichtensprossen aromatisiert war. Als ich das probierte, befand ich mich allein durch die Aromen wieder auf dem nachmittäglichen Spaziergang. Ein eindrucksvolles Erlebnis. Es mag pathetisch klingen, aber mir kamen die Tränen. Mir wurde bewusst, ich war Mitte zwanzig, dass Essen in der Lage ist, Erinnerungen hervorzurufen, einen an Orte oder in bestimmte Gefühlszustände zu versetzen. Das ist mir danach immer wieder passiert.
Auch in der Nicht-Sterne-Küche?
Man muss zunächst verstehen, dass Sterne-Küche nichts mit gutem Service und exklusivem Ambiente zu tun hat, wenngleich in Deutschland häufig eine solche Kopplung zu beobachten ist. Die Sterne werde vom Restaurantführer „Guide Michelin“ allein für die Qualität des Essens vergeben. Die Ausstattung wird zwar auch bewertet, allerdings nicht mit Sternen, sondern mit gekreuzten Bestecksymbolen. Der Guide Michelin ist keine Institution, die Köche auszeichnet, sondern ein im Buchhandel erhältlicher Reiseführer für Gäste. Restaurants, die eine Küche servieren, die einen so berühren kann wie beschrieben, zählen fast immer – und zwar genau deswegen – zu den besten Restaurants. Allerdings sind solche Erlebnisse auch sehr persönlich. Ein Dessert mit präzise herausgearbeiteten exotischen Aromen kann einen nur dann in einen lauen Abend in der französischen Karibik zurückversetzen, wenn man schon einmal dort gewesen ist. Und ein Gericht mit feinen Meerestieren und jodiger Frische erinnert einen nur dann an einen Spaziergang an einer Marina, wenn man das selbst erlebt hat. Das nimmt jeder unterschiedlich wahr. Meistens sind die besten Gerichte jedoch auch die scheinbar simpelsten. Wenige Zutaten von außergewöhnlicher Qualität begeistern mich fast immer mehr als komplexe Tellerarrangements.
Wo gibt es solche Gerichte?
Als ich begann, mich mit dem Essen und bald mit der Drei-Sterne-Küche zu befassen, entdeckte ich schnell, dass Frankreich ein idealer Ort ist, um seinen Gaumen zu eichen. Aber eine produktorientierte, qualitativ hervorragende Küche kann man vielerorts finden. Länder wie die USA, Japan und Spanien sind auch ganz vorne mit dabei. Deutschland bildet derzeit leider ein Schlusslicht.
Sie haben erwähnt, dass Sie sich selbst auch mit der Kochtechnik befasst haben. Inwieweit halten Sie solche Kenntnisse für unabdingbar, um Essen zu bewerten und einzuordnen?
Ich koche regelmäßig, allerdings versuche ich eher, gute Produkte auf den Teller zu bekommen – was als Privatperson schwierig genug ist – als komplizierte Gerichte zuzubereiten. Man muss verstehen, worüber man spricht, wenn man über Essen schreibt. Man kann Textur, Geschmack und Viskosität einer Sauce nur dann sinnvoll bewerten, wenn man selber schon mal Fonds und Saucen zubereitet hat. Und man kann die Qualität einer bestimmten Zutat nur dann beurteilen, wenn man eine Referenz dafür hat. Produkte sich nicht gut, weil irgendein Siegel dem Produkt diese Eigenschaft verleiht, sondern sie sind dann gut, wenn sie gut schmecken. Auch im Bereich der Kochtechniken hilft es, den Überblick zu behalten und zu wissen, wie viel Arbeit in guter Küche stecken kann.
Sie orientieren sich bei Ihren Restaurantbesuchen am jährlich erscheinenden „Guide Michelin“, wie entdecken Sie neu an den Start gehende Restaurants?
Über die sozialen Medien ist das einfach. Ich tausche mich international mit vielen Personen aus, die ebenso essbegeistert oder -verrückt sind wie ich. Da bekommt man schnell etwas mit.
Sie betonen immer, das wichtigste Kriterium bei einem Restaurantbesuch ist das, was sich auf dem Teller befindet. Aber Sie würden doch nicht bestreiten, dass perfekter Service, stilvolles Interieur verstärkend wirken können, und das Gegenteil davon, das Erlebnis torpedieren würde. Ein Teller von Helmut Thieltges vom Waldhotel Sonnora in Dreis funktioniert doch nicht wirklich unterm Neonlicht…
Ich glaube nicht, dass ich mich von wissenschaftlichen Fakten lösen kann, die nahelegen, dass solche äußeren Faktoren auch den Geschmack beeinflussen können. Dennoch zählt für mich bei der Bewertung von Speisen allein das gustatorische Erlebnis. Es gibt ein weit verbreitetes Missverständnis. Die Aussage „wir waren in einem guten Restaurant“ kann alles bedeuten: man hatte tolle Gespräche mit Freunden, das Ambiente war angenehm, man wurde gut bedient, alles hat gepasst, und das Essen war auch irgendwie. In meinem Blog geht es aber in erster Linie nur um eines, das Essen. Ich beschreibe auch das Drumherum, aber die Bewertung der Speisen in meinem Punktesystem gilt allein dem, was auf dem Teller ist – ähnlich wie bei den Michelin-Sternen, die sich auch nur auf die Qualität des Essens beziehen.
Das Restaurant von Helmut Thieltges ist übrigens das einzige aus Deutschland, das ihre höchste Punktzahl zehn erhalten hat. Frankreich, Japan und die USA liegen weit vorn. Wie würden Sie allgemein den Stand der deutschen Sterne-Küche beurteilen?
Ich wünsche mir hierzulande nach wie vor ein Verständnis für Einfachheit auf dem Teller, für authentische Produkte, und ich vermisse noch mehr Köche, die mutig vorangehen, Eigenes schaffen. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass irgendwann ausgerechnet Dänemark in der Kochszene so relevant sein würde? Auf gastronomischer Ebene fehlt in Deutschland auch ein Angebot von sehr guter Küche in reduziertem Ambiente. In den großen Metropolen, von New York bis Tokio, existieren unzählige Restaurants auf hohem, sogar besternten, Niveau, die für jeden Tag geeignet sind, vom Ambiente und von den Preisen her. Bei uns erwartet der Gast zu qualitativ gutem Essen auch immer gleich ein aufwändiges Ambiente und formellen Service. Das ist nicht die Schuld der Gastronomen, sondern der Gäste.
Haben die Deutschen ein Problem mit dem Essen?
Nehmen Sie eine Klischeesituation: Zwei Freundinnen sitzen in einer deutschen Großstadt in einer Bar. Was bestellen sie? Weißweinschorle. Im besten Fall kennen sie eine Rebsorte beim Namen, aber der Rest, wie z. B. Herkunft und Erzeuger, ist ihnen unwichtig. In Stockholm hätten sie gezielt einen Wein aus ihrer Lieblingsappellation in Burgund gewählt. Wer keine guten Produkte verlangt, erhält sie auch nicht. Beim Essen stelle ich eine ähnliche Unbekümmertheit fest. Nahezu niemand beurteilt Essen nach der Qualität der Produkte. Solange die Gerichte vermeintlich schön angerichtet sind und der Abend in Summe gelungen ist, macht man hier einen Haken dran. Diese Genügsamkeit ist symptomatisch in Deutschland. Darauf ruhen sich viele Gastronomen aus. Besonders in der so genannten Szenegastronomie kann man den Gästen geringe Qualitäten zu hohen Preisen verkaufen – beschweren tut sich niemand. Das ist außerhalb Deutschland fast überall anders.
Sie sind ein erfolgreicher Unternehmer, investieren offenkundig viel Zeit in Ihren Blog „Trois Etoiles“, in dem Sie Ihre Leser sehr ausführlich an Ihren Restaurantbesuchen teilnehmen lassen. Sie könnten doch Ihre Erlebnisse für sich behalten, schließlich verfolgen Sie damit ja keine geschäftlichen Interessen. Altruismus oder Eitelkeit?
Mir geht es um die Sache, und ich verstehe das auch ein wenig als Bildungsauftrag, nämlich worum es bei wirklich gutem Essen geht. Ich möchte das Verständnis über Produktqualitäten fördern, von einer scheinbar einfachen Tomate bis zum Kaisergranat. Spitzenrestaurants sind nicht deswegen ausgezeichnet, weil das Ambiente außergewöhnlich ist, sondern weil die Produktqualitäten und die Kompositionen der Speisen auf hohem Niveau sind. Mit meinem Blog nehme ich meine Leser zu diesen Erlebnissen mit und trete mit allen Interessierten in einen spannenden Dialog.
In einem Bericht hieß es einmal, Sie seien von einem Teller ergriffen gewesen. Würden Sie einen Restaurantbesuch mit einem Kunstwerk oder einem theatralen Akt vergleichen. Ist Kochen Kunst?
Ein spannendes Thema. Für mich ist Kochen keine Kunst, sondern Handwerk. Wenn ein Gericht für einen Gast hübsch oder aufwändig angerichtet ist, hat das mit Kunst nichts zu tun, sondern mit einem persönlichen Empfinden von Ästhetik. Um gut zu kochen, muss man sein Handwerk beherrschen und gute Zutaten einkaufen. Dafür muss man kein Künstler sein, im Gegenteil, solche Neigungen sind häufig kontraproduktiv. Es gibt ganz wenige Köche, bei denen sich diskutieren ließe, ob ihr Essen künstlerische Aspekte hat. Wenn, sind diese allerdings nicht optischer Natur, sondern intellektueller. Betrachten wir zum Beispiel Pierre Gagnaire in Paris. Gagnaire ist Jazzliebhaber, und genau diese verrückte, dennoch stimmige Improvisation findet man auch auf seinen Tellern wieder. Sein Essen ist wie Jazz. Als ich das erste Mal bei ihm war, hatte ich genau diese Assoziation, ohne dass ich vorher von seiner Passion wusste.
Faszinierend an Ihrem Blog ist, dass Sie völlig unabhängig sind, Sie begleichen Ihre Rechnung selbst. Restaurantrezensenten anderer Online-Gastroseiten lassen sich teilweise einladen. Was halten Sie davon?
Um Objektiv über eine Sache zu schreiben, muss man sie nicht zwingend bezahlen. Sehen sie sich Autozeitschriften an, die kaufen die Autos ja auch nicht. Dennoch ermöglicht mir meine Unabhängigkeit einen besonders offenen und transparenten Austausch über meine Erlebnisse.
Suchen Sie das Gespräch mit Köchen?
Selten. Manchmal kommt es dazu, wenn z. B. ein Koch das Bedürfnis hat, im Restaurant seine Runden zu drehen – ich finde das eher befremdlich, weil die meisten Gäste ohnehin nur sagen, ach, war das toll. Ich selbst habe nach einem langen Essen, gerade in Gesellschaft, nur selten Lust darauf, in einen ausführlichen Dialog mit dem Küchenchef zu treten. Hierzu muss ich auch erst meine Gedanken sortieren. Aber es gibt viele Ausnahmen, gerade auch bei modernen Restaurant mit offener Küche oder am Tresen. Dort kommt ein Dialog mit dem Küchenteam ganz automatisch zustande.
Sie fotografieren die Speisen, gelegentlich das Interieur. Gibt es da Probleme, oder fragen Sie vorher immer?
In Deutschland und Europa gibt es so gut wie keine Probleme. Zudem gehe ich diskret vor, fotografiere nur mit meinem Mobiltelefon, ohne Blitz und ohne Ton. In den USA und Japan gibt es viele Restaurants mit einer „no photos policy“. In der Regel respektiere ich das, es gab aber von mir auch schon Experimente mit Gimmicks wie einer Uhr mit integrierter Kamera, aber da kam nur Verwackeltes bei heraus. (lacht)
Einmal hatten Sie vergessen, einen Gang zu fotografieren und haben ihn gleich noch mal geordert.
Da kam eines zum anderen. Es handelte sich nur um ein kleines Amuse-Bouche, das jedoch so gut war, dass ich es ohnehin nachbestellen wollte. Es ist auch wichtig, solche Empfindungen zu haben und diesen zu folgen. Ein größeres Kompliment als dass man eine Speise noch einmal essen möchte, gibt es kaum.
Man kann sich sicherlich schnell einig werden, ob ein Gericht handwerklich gelungen ist. Gibt es für das Übrige einen Kriterienkatalog, dem Sie folgen?
Grundsätzlich ist der Katalog mein Erfahrungsschatz. Wenn ich die Qualität eines bestimmten Produktes bewerte, die besser ist als die Qualitäten, die ich vorher kennen gelernt habe, dann speichere ich das als neue Referenz ab – egal, ob das eine Gurke oder eine bestimmte Muschelart ist. Das Faszinierende an großartiger Küche ist fast immer Authentizität und Schlichtheit. So stehen bspw. im Restaurant von Alain Ducasse in Monaco nicht etwa Kaviarschüsseln auf der Speisekarte, sondern schlichte Salate, Gemüse- und Fischgerichte in Qualitäten, die man nie vergisst.
Ist das nicht ein unendlicher Quell von Frustration im Alltag, weil man ja nicht überall die besten Qualitäten bekommt?
Ja und nein. Man kann sich seine Nischen schaffen. Das wichtigste ist, so wenig Kompromisse wie möglich einzugehen und auf gute Grundprodukte zu achten. Olivenöl, Salz, Brot – solche scheinbar einfachen Dinge können in exzellenten Qualitäten große kulinarische Freuden bereiten. Gutes Essen definiert sich nicht über klassische Luxuszutaten. Ein Hummer ist für mich kein Inbegriff für eine hochwertige Zutat. Ein exzellenter Hummer ist es, aber eine exzellente Melone genauso. Es geht immer nur um die Qualität jeder einzelnen Zutat. Es ist auch nicht wichtig, auf Gütesiegel zu achten – auch wieder so ein deutsches Phänomen –, es ist wichtig, Qualität bewusst wahrzunehmen. Wenn man einmal ein gutes Stück Fleisch gegessen hat, möchte man mittelmäßige Ware automatisch nicht mehr essen. Durch ein besseres Wissen über Qualitäten und das Einfordern solcher tut man mehr gegen Massentierhaltung als mit völligem Verzicht. Leider ist das Thema Essen hierzulande häufig mit seltsamen Ideologien oder Angst besetzt.
Angst?
Irrationale Ängste vor bedenklichen Schadstoffen oder vor Fehlernährung. Schadstoffe sind aber kein signifikantes Problem; in diese Hinsicht war Essen noch nie so sicher wie heute. Es ist sehr einfach, sich schlecht zu ernähren, aber es ist auch sehr einfach, sich richtig zu ernähren. Dazu muss man weder Ratgeber lesen noch gläubig werden. Wer sein Essen immer nur aus Verpackungen herausholt oder in Schnellrestaurants isst, ernährt sich auf Dauer nicht nur nachweislich mangelhaft, sondern lässt seinen Geschmackssinn verkümmern. Wichtig ist, dass man Qualitäten bewusst wahrnimmt und sich dadurch einen Erfahrungsschatz über Lebensmittel aller Art aufbaut. Wenn man eine unreife, harte Avocado einer reifen vorzieht, nur, weil auf ersterer ein Biosiegel klebt, hat man die falsche Wahl getroffen. Es ist wichtig, auf seinen Geschmack zu achten. Gute Produkte schmecken auch immer gut, das wird häufig vergessen.