Ruhestandslos: Viele Firmen wollen ihre Mitarbeiter dazu bewegen, auch im Alter weiter zu arbeiten Foto: contrastwerkstatt/Fotolia

Die großen Konzerne bemühen sich immer stärker darum, Beschäftigte auch jenseits des Ruhestands im Unternehmen zu halten. Nun müssen auch kleinere Betriebe umdenken: Die Rente mit 63 wird viel stärker nachgefragt, als die Unternehmen befürchtet haben.

Stuttgart - Emil Kniel war genau einen Monat lang im Ruhestand. Von April bis Mai. Dann hat der Stuttgarter Autobauer Daimler ihn gefragt, ob er Teil des Expertenpools für Senioren werden will. Wie er jetzt arbeitet, findet er perfekt: „An zwei Tagen in der Woche habe ich Zeit für meine Frau, meinen Garten und mein Rennrad.“ An drei Tagen leitet er am Standort Rastatt ein Projekt, das sich mit der Frage befasst, wie die Generationen in Unternehmen künftig noch besser zusammenarbeiten können. Große Konzerne wie Daimler holen seit Jahren Ruheständler wie Kniel wieder ins Unternehmen zurück. Und vor dem Hintergrund der Rente mit 63 scheint auch der Rest der Wirtschaft den Wert der Senioren für sich zu entdecken.

Bei Umfragen unter Mitgliedsunternehmen des Arbeitgeberverbands Südwestmetall haben gut zwei Drittel der Betriebe negative Auswirkungen wegen der Rente mit 63 festgestellt. Zehn Prozent berichten von starken negativen Effekten. Vor allem kleinere Firmen treffe der Verlust der Älteren.

„Die gravierenden Auswirkungen dieser ausgesprochen wirtschaftsschädlichen Rentenreform hinterlassen jetzt schon und künftig noch größere Bremsspuren auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Peter Kulitz, Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags (BWIHK). „Dieser Fehlanreiz mit der Folge eines massiven Entzugs an Fachkräften, auf den wir rechtzeitig hingewiesen hatten, trifft uns härter als alle Vorausberechnungen der Regierung.“

Bis Ende Juni haben bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) in Baden-Württemberg 18 923 Menschen Anträge auf die abschlagsfreie Rente ab 63 gestellt. Seit einem Jahr können Menschen, die 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, ohne Abzüge bei ihrer Rente in den Ruhestand gehen. Hinzu kommen Anträge, die über DRV Bund und die Knappschaft Bahn-See gestellt werden. Dort sind weitere 45 Prozent der Baden-Württemberger versichert.

Bis Ende Mai haben 320 000 Menschen den Antrag gestellt

Auf Bundesebene haben bis Ende Mai 320 000 Menschen den Antrag gestellt. Das sind mehr als erwartet – dadurch erhöhen sich auch die Kosten für das Projekt von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Ihr Ministerium und die Deutsche Rentenversicherung gehen davon aus, dass die Rente mit 63 die Beitragszahler jedes Jahr drei Milliarden Euro extra kostet. Das ist eine Milliarde mehr als ursprünglich angenommen.

Nicht nur darum läuft die Wirtschaft Sturm gegen die Reform. „Wenn ich mich im Bekanntenkreis umhöre, stoße ich schnell auf Beispiele, wie hart diese Rentenreform meine Unternehmerkollegen trifft“, sagt Kulitz. „Wie soll es ein Betrieb mit zehn Mitarbeitern bei der augenblicklichen Arbeitsmarktlage schaffen, zwei hoch qualifizierte Fachkräfte innerhalb kürzester Zeit zu ersetzen?“ Gelinge dies nicht, würden zwangsläufig betriebliche Abläufe beeinträchtigt.

In einer Umfrage unserer Zeitung unter kleinen und mittleren Unternehmen wollte sich jedoch keine Firma öffentlich zu Kritik bekennen. Die meisten fanden die Rente mit 63 zwar grundsätzlich schlecht, konnten aber keine konkreten Fälle aus dem eigenen Betrieb nennen.

Besonders ältere Arbeitslose wundert die plötzliche Wertschätzung der Wirtschaft für den Erfahrungsschatz der Beschäftigen über 60. Denn Fachkräftemangel hin oder her – das Alter gilt laut Bundesagentur für Arbeit immer noch als Vermittlungshemmnis. „Vielen Unternehmen fällt es schwer, hier umzudenken“, sagt Arbeitsmarktexperte Stefan Sell. „Sie sind es gewohnt, dass sich auf eine Azubi-Stelle mindestens 20 Leute bewerben.“ Nun müssten sie lernen, dass sich die Angebot-und-Nachfrage-Situation verändert und sie attraktiver werden müssen. „Auch für Ältere“, so Sell. Die Forderung an die Politik, mehr Anreize zu schaffen, dass Mitarbeiter länger im Betrieb bleiben, falle letztlich auf die Firmen zurück: „Die Unternehmen müssen Arbeitsplätze so gestalten, dass Mitarbeiter auch im Alter noch gut und gern dort arbeiten können.“

Genau das ist die Aufgabe von Emil Kniel. So führt er im Werk Rastatt beispielsweise gerade den sogenannten stuhllosen Stuhl ein. Dabei handelt es sich um eine gelenkschonende Sitzkonstruktion für Produktionsmitarbeiter. Daimler rechnet damit, dass bis 2020 jeder zweite Beschäftigte 50 oder älter sein wird. 2013 hat der Autobauer das Projekt „Daimler Senior Experts“ gegründet. Es sieht vor, dass Ehemalige temporär zurückkommen. Bezahlt werden sie auf Tagessatzbasis. „Die Zahl der Experten ist seitdem kontinuierlich gestiegen“, sagt eine Sprecherin des Autobauers. Während Daimler im vergangenen Jahr noch 390 Ruheständler zur Verfügung standen, sind es nun rund 600. Die Zahl der Einsätze ist von 100 auf 250 gestiegen. Das Potenzial von Ruheständlern zu nutzen ist kein Alleinstellungsmerkmal von Daimler. Auch der Technologiekonzern Bosch und der Versandhändler Otto setzen auf Senioren.

Kniels Einsatz ist auf sechs Monate beschränkt, danach kann er um drei Monate verlängern. Das hat er vor. Es geht ihm nicht um Geld, beruflich muss er sich auch nichts mehr beweisen: „Ich finde es schön, das Gefühl zu haben, noch gebraucht zu werden.“