Das Thema Seide zieht sich wie ein roter Faden durch Zürich. Foto: Susanne Hamann

Das Geschäft mit dem Luxusgut Seide machte Zürich einst reich. Dann sorgte billige Konkurrenz aus Fernost für den Niedergang der Branche. Heute erinnert man sich an der Limmat wieder an das textile Erbe.

Zürich - Papierschnipsel, überall. Weiße, rote, gelbe, blaue Fetzen, dazwischen Kleber und Stifte. Was aussieht wie die Hinterlassenschaft von zwei Dutzend bastelfreudigen Kitakindern, ist das kreative Chaos von Sonnhild Kestler. Die Schweizer Textildesignerin mag keine Computer. Sie entwirft von Hand, druckt Formen auf Papier, schneidet sie aus und kombiniert die Blumen, Punkte oder Streifen so lange zu Ornamenten, bis sie zufrieden ist. „Ich mag es, wenn das Muster vor meinen Augen entsteht. Der Prozess ist wichtig“, sagt die 54-Jährige.

Die fertige Papiercollage überträgt Sonnhild Kestler auf Stoff. Das funktioniert im Siebdruckverfahren. „Für jede Farbe braucht es ein eigenes Sieb“, erklärt sie, „zwischendurch wird der Stoff trockengeföhnt.“ Eine aufwendige Sache. Die Designerin macht alles selbst, nur das Fixieren der Farbe mit 90 Grad heißem Dampf übernimmt eine Firma im Kanton Glarus. Ach ja, und beim Einrollen der Kanten von Seidentüchern helfen ein paar Frauen in Appenzell. Sonst entstehen alle Dessins an dem acht Meter langen Drucktisch in Kestlers Atelier im Zürcher Stadtteil Höngg.

In der Schweiz sind die farbenfrohen Foulards, Kissen, Teppiche, Handtücher und Accessoires berühmt. Mehr Künstlerin als Modeschöpferin schert sich die mehrfach Ausgezeichnete nicht um Trends, wirft keine Kollektionen für verschiedene Jahreszeiten auf den Markt, sondern gestaltet, was ihr einfällt. „Ich mag Stoff, er ist nah am Körper und lebt. Nur auf Papier arbeiten könnte ich nicht“, sagt Sonnhild Kestler.

Die Zürcher spinnen – und zwar Seidenstoffe

Die Designerin ist eine der letzten in Zürich, die noch mit Stoff arbeitet. Dabei war die Stadt an der Limmat einst ein Zentrum der europäischen Seidenindustrie. Um das Jahr 1900 galt die Devise: Die spinnen, die Zürcher. Damals lebten 50 000 Menschen von der Seidenherstellung. Doch Kriege, Wirtschaftskrisen, die Erfindung der Kunstfaser und billige Konkurrenz aus Fernost setzen der Zürcher Seide schwer zu. Fast alle Firmen und Designer sind nach und nach verschwunden. Alle, bis auf Sonnhild Kestler. Und bis auf die Trudel Fashion Group und deren Tochterunternehmen Fabric Frontline. Laut Klischee besitzt jeder Schweizer ein Taschenmesser und jede Schweizerin ein Seidentuch, beides aus heimischer Produktion. Fabric Frontline beliefert auch die Haute Couture: Seiden-Ducasse für Chanel, Taft für Dior, Organza für Vivienne Westwood.

Die hauseigenen Foulards schauen aus wie die berühmten Tücher des französischen Luxuslabels Hermès. Und sie kosten auch ungefähr so viel: ab 340 Schweizer Franken (rund 295 Euro) aufwärts. Wer genau hinschaut, entdeckt bei Fabric Frontline aber lustige Muster – Vogelspinnen, Blattwanzen, Ameisen, Kakteen, Affen oder Frösche. Wer hätte so viel schrägen Humor bei den als langweilig verschrienen Eidgenossen erwartet? Kurios auch, dass sich der Showroom des Luxuslabels im eher zwielichtigen Kreis 4 befindet (die Zürcher Quartiere werden durchnummeriert). Die Gegend jenseits des Flusses Sihl und südwestlich des Hauptbahnhofs war lange Zeit rot beleuchtet. Heute haben sich die Gassen rund um die Langstraße zum beliebten Ausgehviertel gemausert.

Die Kulturszene trifft sich direkt neben Lenins Haus

Eine kuriose Kombination ist auch der Laden Thema Selection (französisch ausgesprochen) direkt neben dem Haus, in dem einst Lenin Zuflucht suchte. Die Boutique war immer schon ein Treffpunkt der Zürcher Kunst- und Kulturszene. Sissi Zoebeli (68), die in den 70er Jahren mit ihrem androgynen Style der Zeit weit voraus war, verkauft hier ihre eigenen Kreationen. Dazu gibt es Mode aus Schweizer Produktion, auch Sonnhild Kestler ist vertreten. „Es ist schwer, gute Sachen zu finden. Wir sind kein Modeland“, sagt Zoebeli.

Auf Tuchfühlung mit der Seidengeschichte

Früher war das anders. Auf Tuchfühlung mit der Seidengeschichte kann man im Landesmuseum gehen, gleich neben dem Bahnhof. Andrea Franzen leitet als Kuratorin die Textiliensammlung. Hinter getönten Scheiben lagern die Archive der großen Firmen, die inzwischen längst abgewickelt sind. Um die Bestände zu sichern und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, stellte der Kanton 2,8 Millionen Franken aus dem Lotteriefonds zur Verfügung. „Zu uns kommen Studenten oder Designer, die sich inspirieren lassen wollen“, sagt Andrea Franzen. Herzstück der Sammlung ist der Nachlass der Firma Abraham. Ein einst klingender Name – und Stoff für Geschichten. Der Zürcher Hersteller versorgte ab den 1950er Jahren die Pariser Haute Couture. Modehäuser wie Yves Saint Laurent, Dior, Balenciaga, Ungaro, Chanel, Givenchy schneiderten mit Seide von Abraham.

Gustav Zumsteg, der Chef des Hauses, umgarnte die Stars, und er war ein Freund der Künstler. Im Restaurant seiner Mutter Hilda Zumsteg, der berühmten Kronenhalle, gingen Literaten, Maler und Designer ein und aus. Wer nicht zahlen konnte, ließ ein Bild da. 2005 starb Zumsteg, 2008 ging Abraham pleite und die Musterbücher, Stoffrollen, Scrapbooks in den Besitz des Landesmuseums über. Hier kann man nun unter anderem den Entwurf von Yves Saint Laurent für das Hochzeitskleid bewundern, in dem Farah Diba den Schah von Persien ehelichte.

Die kleine Seidenstraße

Beeindruckend und fast königlich ist auch das Palais Rechberg, das stolz am Rand der Zürcher Innenstadt thront. Das prachtvolle Ensemble aus Haupthaus, Nebengebäuden und terrassenartig angelegtem Park gehört zu den schönsten Barockanwesen der Schweiz. Vom höchsten Punkt des Gartens hat man einen tollen Blick auf die Stadt. Persönlichkeiten wie Kaiser Franz I. von Österreich, Friedrich Wilhelm II. von Preußen, Zar Alexander von Russland wurden hier empfangen. Was kaum einer weiß: Das Haus wurde als Privathaus für Anna Werdmüller-Oeri gebaut. Die Dame war als Tochter eines Mousseline-Fabrikanten schon von Haus aus reich. Dann heiratete sie auch noch einen gut betuchten Gewebe-Baron. Wer durch die imposanten Räume geht, ahnt, dass das Geschäft mit der Seide mal eine einträgliche Sache gewesen sein muss. „Seidenstoffe sind das Fundament unseres Wohlstandes“, sagt Martin Jurt. Als Chef der Zentralen Dienste im Kanton Zürich ist er heute so etwas wie der Hausherr im Palais Rechberg. Beim Rundgang durch die frisch renovierten Säle erfährt man, dass Seide in Zürich den Handel ankurbelte und dass Stoffherstellung und Bankenwesen eng miteinander verwoben sind. Denn irgendwann begannen die reichen Tuchhändler, Geld zu verleihen.

Das Thema Seide zieht sich wie ein roter Faden durch die Stadt

Das Wissen, wie man aus den kleinen Kokons der Seidenraupe zarte Stoffe herstellt, brachten Glaubensflüchtlinge im 16. Jahrhundert an die Limmat. Sie mussten als Protestanten aus dem Tessin flüchten und fanden eine neue Heimat in der toleranten Stadt des Reformators Zwingli.

Das Thema Seide zieht sich wie ein roter Faden durch die Stadt. Wo heute das Kaufhaus Jelmoli steht, waren früher die Seidenhöfe. Sie wurden 1896 abgerissen. Von den alten Kaufherrenhäusern steht nur noch der Florhof am Hirschengraben. Heute befindet sich in dem Gebäude ein Hotel. „Die meisten denken, das Wort Florhof kommt von Flora. Aber es leitet sich von Florettseide ab“, erklärt Direktrice Isabelle Zeyssolff. Florettseide wird aus den Fäden gemacht, die man nur in Bruchstücken vom Kokon abwickeln kann.

Maulbeerbäume für Seidenraupen

Die Florhofgasse und das Quartier drum herum im Kreis 1 war ein Zentrum der Zürcher Seidenindustrie. In der schmucken Lobby des Florhof, in dem oft Menschen aus Kunst und Kultur sitzen, hängt die Reproduktion eines Holzschnitts von Jos Murer aus dem Jahr 1576. Man erkennt das Grossmünster, dessen Doppeltürme damals noch zwei spitze Dächer trugen statt der heute bekannten kugeligen Nadelhelme. Außerhalb der Stadtmauern an einem Weinberg steht ein einsames Haus – der Flohhof. Dank der Lage am Hang gab es hier viel vorbeifließendes Wasser, pralle Sonne und keine Nachbarn, die sich über strengen Geruch beschwerten. Ein idealer Platz zum Kämmen, Weben, Färben und Trocknen der Florettseide. Die Zürcher Webereien verteilten sich daher alle rund um die Stadt. Heute sind die Mauern geschleift, auf den dadurch entstandenen breiten Straßen zuckeln die blauen Wagen der Tram. Die Stadt hat sich weit ausgebreitet, die Florhofgasse gehört nun zum Randbezirk der Innenstadt.

Als Kind wunderte sich Isabelle Zeyssolff auf ihrem Schulweg immer über die Bäume mit den komischen Beeren. Wenn die brombeerartigen Früchte reif waren, fielen sie herunter und färbten die Schuhsohlen ganz rot. „Das sind Maulbeerbäume, die man gepflanzt hatte, um Seidenraupen zu züchten“, erzählt die 45-Jährige. Leider ging das Experiment schief. Die rote Variante des Maulbeerbaums ist zwar robuster und kann die Temperaturen in Europa gut vertragen, entspricht aber nicht dem Geschmack der wählerischen Tierchen. Die Bäume aber stehen noch heute und erinnern an längst vergangene Zeiten.

Hinkommen, Unterkommen, Rumkommen

Anreise

Mit dem Auto über die A 81 bis zur Grenze bei Schaffhausen, weiter auf den Schweizer Autobahnen A 4 und A 1 nach Zürich. Mit dem Zug ab Stuttgart direkt oder mit Umstieg in Singen am Hohentwiel (www.bahn.de).

Unterkunft

Hotel Florhof: Hübsches, privat geführtes Boutiquehotel nahe der Innenstadt. In dem denkmalgeschützten Haus wohnte einst einen Seidenkaufmann. Ausgezeichnete Küche, persönlicher Service. Doppelzimmer mit Frühstück ab 280 Schweizer Franken (243 Euro), www.hotelflorhof.ch.Atlantis by Giardino: Fünf-Sterne-Luxus in aussichtsreicher Lage am Uetliberg. Doppelzimmer ab 505 Schweizer Franken (438 Euro), https://atlantisbygiardino.ch/

Essen und Trinken

Die Kronenhalle ist Kult in Zürich. Seit eh und je trifft man sich hier. Schriftsteller wie Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, Künstler wie Alberto Giacometti, Marc Chagall und Joan Miró zählten zu den Stammgästen. In der Brasserie hängt echte Kunst an den vertäfelten Wänden, Kellner in weißen Jacketts servieren gehobene französisch angehauchte Küche und Schweizer Klassiker. Ein Muss: Kalbsgeschnetzeltes mit Rösti. Nicht günstig, aber „sans pareil“ – einzigartig. www.kronenhalle.ch Antonio Colaianni serviert im Restaurant Gustav mediterrane Küche vom Feinsten. Für Zürcher Verhältnisse ist der Businesslunch mit 58 Franken für 3 Gänge fair kalkuliert. Falls es was zu feiern gibt: Auf der Karte stehen 125 Sorten Champagner. Leider ist die Gegend in der Europaallee etwas trostlos. www.gustav-zuerich.chLaut Guinness-Buch der Rekorde ist Hiltl das älteste vegetarische Restaurant der Welt – seit 1898. Früher als Wurzelbunker verschrien, heute hip. Verschiedene Standorte in der Innenstadt, www.hiltl.ch/de/

Ansehen

Das Seidenarchiv im Landesmuseum gehört zum Studienzentrum des Hauses und kann nach Voranmeldung kostenlos besichtigt werden. Anmeldung: info@snm.admin.ch,wwww.nationalmuseum.ch/d/zuerich/Das Haus zum Rehberg ist einmal im Jahr für die Öffentlichkeit zugänglich. Den Garten und die schöne Aussicht kann man jederzeit genießen, www.openhouse-zuerich.org/orte/haus-zum-rechbergSonnhild Kestlers Kreationen gibt es in der Boutique Thema Selection in der Spiegelgasse 16, www.sonnhildkestler.ch, www.themaselection.ch.Den Showroom der Firma Fabric Frontline findet man in der Ankerstraße 118, www.fabricfrontline.ch

Allgemeine Informationen

Schweiz Tourismus, www.myswitzerland.com, Zürich Tourismus, www.zuerich.com/de