Wie kommen Ausländer der Region Stuttgart klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: die Kolomiiets-Denysenko aus Kiew.

Weinsstadt - Die Wohnung der Familie Kolomiiets-Denysenko in Schnait, einem Stadtteil von Weinstadt, sieht wie aus einem Designkatalog aus: glitzerndes Steingrau an der Wohnzimmerwand, dazu Dekoelemente mit Hirschköpfen in Weiß und Gold, Lichterketten und ein flauschiger Teppich. Im Flur hängen Familienbilder aus dem Mallorca-Urlaub, auf Leinwand gedruckt – Meer, Sonne, lächelnde Gesichter. Daneben, gerahmt, ein Spruch: „Die besten Dinge im Leben lassen sich nicht behalten, sie müssen gegeben werden . . . ein Lächeln, ein Kuss und Liebe“.

Olga Denysenko, 36, hat die Räume selbst gestaltet. Sie öffnet die Tür in bodenlangem, zierlich gemustertem Kleid. Auf dem Flauschteppich versucht ihr Mann Vitalii Kolomiiets, 35, Sohn Matwej zu beschäftigen. Der Dreieinhalbjährige betrachtet gebannt eine Spinne, die er in einem Plastikbehälter gefangen hat.

Seit April 2015 lebt die Familie aus Kiew im Schwabenland. Olga Denysenko ist bei dem Reinigungsgerätehersteller Kärcher als Retail Sales Manager für zahlreiche osteuropäische Länder zuständig. Vitalii Kolomiiets ist Autotester bei der Firma Confitech, die hauptsächlich für Daimler Fahrzeugtechnik entwickelt. Geplant hatte das Ehepaar diesen Berufsweg, der sie in die Fremde führte, nicht. Er hat sich ergeben.

Es beginnt damit, dass Olga Denysenko im Februar 2002 von Freundinnen erzählt bekommt, dass sie sich für ein Au-pair-Programm in Deutschland bewerben. Aus Neugier macht sie mit. „Das war der Wendepunkt in meinem Leben“, sagt sie heute.

Der Weg in die Region Stuttgart

Die Zusage für eine Au-pair-Stelle kommt unerwartet rasch. Olga Denysenko unterbricht ihr Finanzstudium in Kiew. Im Oktober 2002 zieht sie bei einer Familie in Hamburg ein. Das Mädchen, das sie betreuen soll, heißt Antonia, ist zweieinhalb Jahre alt und gut erzogen. Nebenher besucht Olga Denysenko Deutschkurse, schnell lernt sie die Sprache. Ihr gefällt es in Hamburg. Dennoch kehrt sie wie geplant in die Ukraine zurück.

2006 macht die schwäbische Firma Kärcher in Kiew eine Niederlassung auf. Olga Denysenko bekommt – auch aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse – eine Stelle als Assistentin der Geschäftsführung. Etwa einmal im Monat wird sie an den Stammsitz nach Winnenden geschickt, entweder als Begleitung von ukrainischen Kunden oder zu Fortbildungen. Im Laufe der Jahre wird die Region Stuttgart für sie ein zweites Zuhause.

Derweil stürzt die Ukraine in eine Krise. Am 21. November 2013 kündigt Präsident Janukowitsch an, das Assoziierungsabkommen mit der EU abzulehnen. Der Euromaidan bricht aus, der Kiewer Platz der Unabhängigkeit füllt sich mit Protestierenden. Auf der Bühne werden tagelang flammende Reden gehalten. „Weg mit der Bande!“, skandiert das Publikum. Auch der Baumarktabteilungsleiter Vitalii Kolomiiets gehört zu den Demonstranten, während seine Frau Olga mit dem Säugling Matwej zu Hause bleibt.

Am 18. Februar eskalieren die Auseinandersetzungen. Demonstranten werfen Feuerwehrkörper, die Polizei schießt zurück. Auf beiden Seiten gibt es Toten, insgesamt mehr als hundert. Am 22. Februar flieht Janukowitsch aus dem Land. Die Euphorie verfliegt, als kurz darauf die Halbinsel Krim von Russland annektiert wird. Die Lage eskaliert. Viele Ukrainer, auch das Ehepaar Kolomiiets-Denysenko, denken darüber nach, ob es vielleicht besser wäre, die Heimat zu verlassen.

Keine Angst vor Veränderungen

Dabei geht es dem Paar in Kiew vergleichsweise gut. Sie haben eine schöne Wohnung und ein gutes Einkommen. Nach Matwejs Geburt sitzt Olga Denysenko schnell wieder im Büro. Sie mag ihren Job und das pulsierende Leben in der 2,8-Millionen-Einwohner-Metropole, wo die meisten Geschäfte und Lokale rund um die Uhr geöffnet haben. Wenn die jungen Eltern ausgehen wollen, engagieren sie eine von Matwejs Omas als Babysitterin. Am liebsten besuchen sie eine 22-Uhr-Vorstellung im Kino, anschließend sitzen sie bis spät in die Nacht in einem Café oder spazieren entlang der Dnepr. Olga Denysenko und Vitalii Kolomiiets lieben Kiew. Aber für Matwej wünschen sie sich eine Kindheit in der Natur, wo er saubere Luft atmen und ungefährdet spielen kann. Arbeit außerhalb von Großstädten gibt es für sie in der Ukraine allerdings nicht.

Vor zwei Jahren bekommt Olga Denysenko das Angebot, nach Winnenden an den Kärcher-Stammsitz zu wechseln. Die unsichere wirtschaftliche Lage in der Ukraine ist ausschlaggebend dafür, das sie es annimmt. Sie hat keine Angst vor der Veränderung, sie kennt die Region ja schon und nimmt an, dass sie hier problemlos klarkommen wird. Doch ihr Mann spricht kein Wort Deutsch und war nur ein paar Mal in München auf Geschäftsreisen. „Vitalii hat damals mit Deutschland nur Bier und Fußball verbunden“, sagt sie.

Die bürokratischen Hürden sind mithilfe des Global Players Kärcher schnell genommen. Als hochqualifizierte Nicht-EU-Bürgerin mit einem Arbeitsvertrag bekommt Olga Denysenko eine Aufenthaltsgenehmigung, die sogenannte Blue Card. Da Matwej noch ein Baby ist, wird der Prozess für ihn und seinen Vater beschleunigt – das Visum für den Familiennachzug liegt eine Woche nach Olgas Blauer Karte vor.

Die Kolomiiets-Denysenkos sind Exoten

Im April 2015 kommt die Familie in Deutschland an. Anfangs wohnt sie in Schwäbisch Hall bei Freunden. Sofort macht sie sich auf die Suche nach einer festen Bleibe. Orte mit hohem Migrantenanteil scheiden aus. Ziel sei schließlich, sagt Olga Denysenko, „die deutsche Kultur kennenzulernen und sich schnell zu integrieren“.

Nach mehr als einem halben Jahr Suche findet die Familie endlich eine passende Wohnung in Schnait. Die unmittelbaren Nachbarn: hauptsächlich alteingesessene Schwaben. Die Kolomiiets-Denysenkos sind Exoten. Nach ein paar Wochen klebt ein Zettel an ihrer Tür: Das Paar, das unter ihnen wohnt, beklagt sich darüber, dass Matwej zu laut sei. Diese Art der Kommunikation begegnet Olga Denysenko und Vitalii Kolomiiets zum ersten Mal in ihrem Leben. Über nachbarschaftliche Probleme, so sind sie es aus der Ukraine gewöhnt, redet man offen, wenn man sich begegnet.

Vor Kurzem hing wieder ein Zettel an der Tür. Der ausgebildete Manager Vitalii Kolomiiets dachte, die Kehrwoche korrekt erledigt zu haben. Er hatte das Treppenhaus gewischt und sogar die Garage gefegt. Doch nun wollte eine Nachbarin wissen, warum er die Briefkästen und die Fenster im Flur nicht geputzt habe. „Wir haben es akzeptiert, dass man nicht mit uns spricht, und wir respektieren diese Art der Kommunikation – aber in der Seele ist uns dieser Umgang fremd“, sagt Olga Denysenko. Ihr Mann hat der Nachbarin, nachdem er alle Putzaufgaben erledigt hatte, ein einziges Wort zurückgeschrieben: „Done.“ Erledigt.

Geregelte Arbeitszeiten als Luxus

Matwej wird immer ungeduldiger, mit viele Getöse versucht er, die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zu lenken. „Willst du den Zeichentrickfilm über die Ballerina schauen?“ fragt sie, als er anfängt, am Teegeschirr zu spielen. – „Nein, nicht den Ballerina-Film, nimm die Ritterhelden-DVD“, insistiert sein Vater.

Die Ritterhelden bekommt Matwej auf Russisch zu sehen. Es ist die Muttersprache von Vitalii Kolomiiets – und die Sprache, in der sich die Familie in den eigenen vier Wänden unterhält. Ukrainisch wurde quasi vom Lehrplan gestrichen. „Zu wenig verbreitet“, sagt Olga Denysenko. Deutsch lernt Matwej in der Kita, die er seit einem Jahr besucht. Auf diese Weise, hoffen seine Eltern, soll er irgendwann zwei Sprachen perfekt beherrschen.

Eine eigene Welt in der Fremde

Seine Stelle bei der Firma Confitech fand Vitalii Kolomiiets im Internet. Olga las seinen Lebenslauf Korrektur und bereitete ihn auf das Vorstellungsgespräch vor. Sein Abteilungsleiter spricht Ukrainisch, mit dem Geschäftsführer redet Vitalii Kolomiiets Deutsch – was immer besser klappt. Der feste Job habe ihm die Eingewöhnung sehr erleichtert, sagt er, und dass er die geregelten Arbeitszeiten geradezu als Luxus empfinde. „In Kiew durfte niemand nach Hause, bevor nicht die ganze Arbeit für den Tag erledigt war“, erzählt Vitalii Kolomiiets. „Und wenn der Chef anrief, musste man springen – auch an Sonntagen oder an Feiertagen.“ Dafür habe es Bonusprämien für die besonders fleißigen Beschäftigten gegeben. Diese Motivation fehle den deutschen Arbeitnehmern.

Entgegen den Erwartungen ist ausgerechnet seine Frau Olga diejenige, die unter starkem Heimweh leidet. „Vitalii versteht gar nicht, wovon ich rede“, sagt sie. Im August waren sie für zwei Wochen in Kiew – insgesamt zum vierten Mal, seit sie in Deutschland wohnen. „Ihm ist es zu viel“, sagt Olga Denysenko, „mir ist es zu wenig.“ Während er sich mittlerweile in der Region Stuttgart „wie Fisch im Wasser“ fühle, werde sie mit den Schwaben nicht richtig warm. Was zur Folge hat, dass das Paar trotz der ursprünglichen Integrationsbereitschaft mittlerweile hauptsächlich russischsprachige Freunde hat. „Ich baue mir in dieser Welt meine eigene“, sagt Olga Denysenko.