Reid Anderson ist Ballettintendant in Stuttgart und kommt am 4. Dezember zum Treffpunkt Foyer der Stuttgarter Nachrichten. Foto: Roman Novitzky

Das Stuttgarter Ballett wird weltweit gefeiert – Schritte in tänzerisches Neuland beflügelt auch die Pflege des Erbes von John Cranko. Wie sichert man dieses Ballettwunder 2.0? Stuttgarts Ballettintendant Reid Anderson gibt am 4. Dezember Antworten beim Treffpunkt Foyer der Stuttgarter Nachrichten.

Stuttgart - Der Haupteingang der Staatstheater Stuttgart liegt an der Stadtautobahn. Achtspurig führt die Bundesstraße 14 vor den Türen vorbei. Innen dann ein zugiges Foyer mit Pförtnerraum. Und dann? Ist man in einem Gewirr aus Gängen und Räumen. „Man kann uns finden“, sagt Reid Anderson – und lächelt.

Seit 1996 ist der Kanadier Intendant des Stuttgarter Balletts. Eine Zeit, die spätestens 2016 und mit seiner 20-jährigen Amtszeit zu einer Ära wurde. Wohl gerade deshalb, weil Anderson das deutsche Wort „Stillstand“ nicht kennt, wie er lachend sagt. Um dann fast mahnend hinzuzufügen, dass eines unerlässlich sei, um Veränderungen möglich zu machen und zum Erfolg zu führen – Kontinuität.

„Man braucht ständig Veränderung“

Im Gespräch mit unserer Zeitung sagte Anderson 2016: „Man braucht ständig Veränderung, darf nie stehenbleiben. Aber Kontinuität ist kein schmutziges Wort, auch nicht, organisiert zu sein.“ Noch so ein Wort, das wichtig ist für Anderson. Organisiert zu sein. Einen ablesbaren Plan zu haben.

Kontinuität und Organisation als Voraussetzung für ständigen Aufbruch? „Für Veränderungen“, sagte Anderson 2016, „gibt es viele Möglichkeiten: Was für Tänzertypen, was für Choreografen möchte man? Ich versuche auch nach 20 Jahren, offen zu bleiben für alles. Wichtig ist, eine Grundidee zu haben. Meine ist: Man braucht eine Kompanie, die gut genug ist, um in verschiedene Richtungen agieren zu können. Ob in Spitzenschuhen oder Schläppchen: Abwechslung macht den Tänzerberuf reizvoll. Wenn man Tänzer aufbauen will, muss man ihnen verschiedene Richtungen bieten. So bleibt eine Kompanie zudem für das Publikum interessant.“

Ein Weltmarktführer der Tanzkunst

„Interessant“ wirkt untertrieben. Das Stuttgarter Ballett eilt auf seiner Heimbühne im Opernhaus Stuttgart von einem Nachfragerekord zum nächsten, wagt bei seinen Werkstatteinblicken „Blick hinter die Kulissen“ im Kammertheater „XXL“-Formate, ist europaweit ein hochgehandelter Markenartikel der Spitzenkultur und zudem eine feste Größe in Asien. Ginge es um ein Unternehmen, wäre die Einordnung klar. In der Tanzkunst gehört das Stuttgarter Ballett in die Riege der Weltmarktführer.

treffpunkt foyer-Premiere 1996

So selbstverständlich positiv wirkt die Allianz zwischen Reid Anderson und dem Stuttgarter Ballett, dass man sich an andere Augenblicke kaum mehr erinnert. Wie sagte Reid Anderson doch, als ihn nach den ersten Monaten an der Spitze der Kompanie Jürgen Offenbach als Chefredakteur unserer Zeitung in der Alten Reithalle in Stuttgart vor 600 Zuschauern erstmals zum Treffpunkt Foyer begrüßte? „Als ich zu Beginn nach Stuttgart kam, war es immer mit einem negativen Gefühl. Ich musste acht Stunden am Tag mit den Tänzern verhandeln. Ich bin durch die Gänge gelaufen wie eine schwarze Eminenz, und alle zitterten.“

Schon 1996 aber war für das Publikum spürbar: Dieser Reid Anderson, der zuvor das National Ballet of Canada in Toronto gelenkt hatte, würde den Aufbruch nicht nur wagen, sondern auch die hierfür nötige Begeisterung aller wecken können.

Reid Anderson will vorne bleiben

Am liebsten im Ballettsaal

Heute? Herrscht in den Gängen des Stuttgarter Balletts wie überall im Opernhaus ein für Besucher kaum fassbares Treiben. Alles und jeder scheint in ständiger Bewegung, immer scheinen nur Wortfetzen in gefühlt hundert unterschiedlichen Sprachen zu genügen, um ein Einverständnis zu provozieren, die nächste Frage, die nächste Abstimmung folgen zu lassen. Und doch suchen irgendwie immer alle ihn. „Where is Reid?“, wo ist Reid?, das ist die wohl meistgestellte Frage auf den Gängen, zwischen den Zimmern. Am liebsten im Ballettsaal. Am liebsten „bei meinen Kindern“, wie er die Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie gerne nennt.

Von John Cranko nach Stuttgart geholt

Mit Margaret Illmann, Yseult Lendvai, Robert Tewsley und Vladimir Malakhov war Anderson 1996 nach Stuttgart gekommen. Eine Rückkehr. John Cranko hatte den damals 18-Jährigen 1967 nach Stuttgart geholt. 1949 in New Westminster, British Columbia, geboren, hatte Anderson seine Tanzausbildung an der Dolores Kirkwood Academy in Burnaby begonnen und mit 17 Jahren ein Stipendium für ein Studium an der Royal Ballet School in London erhalten.

Cranko-Erbe wird weiterentwickelt

In Stuttgart wird Anderson 1974 Solist, 1978 Erster Solist. Wichtiger aber: Er erlebt die Zeit mit John Cranko, der 1973 auf dem Rückflug von einer USA-Tournee nach Stuttgart völlig überraschend stirbt, nicht nur, er verinnerlicht sie, begreift früh die Einzigartigkeit der Person und ihrer Werke, die Bedeutung aber auch der Zusammenarbeit mit der von Marcia Haydée angeführten Kompanie.

Und so interpretiert Reid Anderson von Beginn an gerade die Aufgabe der Pflege des Cranko-Erbes als dessen Weiterentwicklung. Ja mehr noch, als Möglichkeit, den vor allem über seine Handlungsballette bekannten John Cranko in seiner künstlerischen Radikalität zu entdecken.

Viele Experimente gewagt

Stürmisch geht es vorwärts. Reid Anderson macht das Stuttgarter Ballett zu einer Werkstatt für junge internationale Choreografen. „Ich habe“, sagt Reid Anderson, „viele Experimente gewagt, sowohl mit Personen aus der Kompanie als auch von außerhalb. Es war eine Achterbahn voller Triumphe und aufregender Momente, aber auch kleinerer Unfälle und Sackgassen.“

Welche Anreize Tänzer brauchen

Heute scheint die Lage übersichtlich – Demis Volpi und Marco Goecke prägen mit jeweils eigener Handschrift die Gegenwart des Stuttgarter Balletts mit. Eine Gegenwart, in der das Stuttgarter Ballett auch tänzerisch bewusst von diesem ständigen künstlerischen Neuland profitiert, wie Reid Anderson deutlich macht: „Tänzer, die ständig mit Choreografen am kreativen Prozess arbeiten“, sagt der Intendant, „agieren auf der Bühne anders als die, die immer nur vorgegebene Schritte nachmachen.“ Der Tänzer, der im ständigen, lebendigen Austausch mit Choreografen ist, bringt einen enormen Erfahrungsschatz mit auf die Bühne, Impressionen, Ideen und Inspirationen. Wenn sie auf die Bühne gehen, bringen sie ihre ganze „Welt mit sich“. „Und dies“, betont Anderson, „bereichert ungemein auch ihre Arbeit an Stücken, die vor ihrer Zeit entstanden sind.“

Anderson will vorne bleiben

Man spürt: Anderson will vorne bleiben, die nächste Tänzergeneration an die Spitze führen. Für sie kämpft er weiter um die optimale Ausgestaltung des Neubaus für die Cranko-Schule. Für sie auch macht er immer wieder deutlich, wie – mit Blick auf die Sanierung des Opernhauses, geplant für die Zeit ab 2022 – sorgsam das Thema Interimsspielstätte gerade für das Ballett angegangen werden muss. Zu hart hat er für das Ballettwunder 2.0 gekämpft, um nicht zu wissen, wie gefährdet ein solcher Schatz in einer globalisierten Tanzwelt ist.

Im September 2018 übergibt Reid Anderson den Intendantenstab an Tamas Detrich. Es ist Zeit für eine Bilanz in voller Fahrt – der Treffpunkt Foyer-Abend unserer Zeitung mit Reid Anderson am 4. Dezember in der Liederhalle Stuttgart macht es möglich.

treffpunkt foyer am 4. Dezember – So können Sie dabei sein

Termin Die Treffpunkt-Foyer-Veranstaltung „Ballettwunder 2.0“ mit Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts, findet am Montag, 4. Dezember, statt. Beginn ist um 19 Uhr – im Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle, Mozartsaal, Berliner Platz 1. Nikolai B. Forstbauer, Titelautor unserer Zeitung, wird den Gast des Abends befragen.

Teilnahme Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung ist allerdings erforderlich im Internet unter www.stn.de/foyer. Nach der Anmeldung erhalten Sie eine Bestätigungsmail mit Ihrer Eintrittskarte zum Ausdrucken. Die Karten werden in der Reihenfolge der Anmeldungen vergeben. Die Karten sind personalisiert und nur im Zusammenhang mit Ihrem registrierten Namen auf unserer Gästeliste gültig.