Ein Symbol der Verfolgung – der Judenstern, den die jüdischen Bürger unter den Nazis tragen mussten. Foto: dpa/Britta Pedersen

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 lief im Rems-Murr-Kreis relativ ruhig ab – weil nur wenige Juden hier lebten. Doch auch diese litten massiv unter der Verfolgung durch das Nazi-Regime.

Waiblingen - Synagogen brennen, jüdische Geschäfte werden geplündert und zerstört, tausende Juden inhaftiert: Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 markiert den Übergang von der Diskriminierung hin zur systematischen Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland. In dieser Nacht starben nach offiziellen Angaben 91 Juden, Schätzungen der heutigen Geschichtsforschung gehen jedoch von weit mehr als 1300 Menschen aus, die während und unmittelbar in Folge der Pogrome starben. Rund 30 000 Juden wurden verhaftet und verschleppt.

Keine Aktionen im Rems-Murr-Kreis

Fragt man in den Stadtarchiven verschiedener Kommunen des Rems-Murr-Kreises an, erhält man die Auskunft, dass es keine Fotos, Zeitzeugen- oder Zeitungsberichte zu den Geschehnissen in der Reichspogromnacht vor Ort gibt. „Nach derzeitigem Forschungsstand dürfte in Weinstadt in jener schrecklichen Nacht keine entsprechende ‚Aktion’ stattgefunden haben, einfach weil hier keine Juden ansässig waren“, erklärt etwa Bernd Breyvogel, der Stadtarchivar von Weinstadt.

Insgesamt lebten nur wenige Juden im Rems-Murr-Kreis, es gab hier weder eine jüdische Gemeinde noch eine Synagoge, erläutert Ralf Beckmann in dem Buch „Juden in Fellbach und Waiblingen 1933 – 1945“ und nennt Zahlen einer sogenannten „Judenliste“ vom Oktober 1938, auf der sich 20 Eintragungen für Fellbach und acht für Backnang finden. „In Murrhardt und Backnang werden zur Reichspogromnacht Geschäfte beschmiert. Sonst gab es keine Aktionen gegen Juden im Kreis“, so der Befund des ehemaligen Fellbacher Stadtarchivars.

Fünf Wochen im KZ Welzheim

Doch kurz nach dem 9. November, so beschreibt es Beckmann in dem Buch, wurde etwa der Jude Hermann Arndt, ein getaufter Adventist, der sich vom jüdischen Glauben abgewandt hatte, fünf Wochen lang im KZ Welzheim festgehalten. Offenbar bewahrte ihn nur seine Ehe mit einer arischen Frau davor, von Welzheim aus in eines der großen Vernichtungslager geschickt zu werden. Kurz nachdem der damals 33-jährige Familienvater wieder zu Hause war, musste er gemäß der Verordnung zur namentlichen Kennzeichnung der Juden seinen Namen in Hermann Israel Arndt ändern, und in seinen Ausweis wurde auf dem Fellbacher Rathaus ein großes J gestempelt.

Arndt arbeitete zunächst als selbstständiger Kaufmann, wurde dann aber gezwungen, diese Stelle aufzugeben und war als Kraftfahrer tätig. Als allen Juden im Dezember 1938 die Fahrerlaubnis entzogen wurde, konnte er auch diese Arbeit nicht mehr ausüben, weshalb die Familie zunehmend verarmte. Hermann Arndt bekam schließlich einen Job als Lagerarbeiter in einer Speditionsfirma und verunglückte im Dezember 1942 tödlich.

Gesetze ohne Widerstand ausgeführt

Dabei seien die Todesumstände letztlich Folge der nationalsozialistischen Verfolgung gewesen, schreibt der ehemalige Stadtarchivar: „Arndt war aufgrund seiner rassischen Diskriminierung körperlich und seelisch einer dauernden Überbelastung ausgesetzt. Er musste alle dreckigen und gefährlichen Arbeiten machen, weil er als Jude nicht protestieren konnte.“

Dieses Schicksal zeigt, dass auch im Rems-Murr-Kreis Menschen massiv unter dem nationalsozialistischen Regime litten. Zwar habe sich etwa in Waiblingen „ein allgemeiner Antisemitismus nicht entwickelt“, konstatiert der Historiker Hans Schultheiß ebenfalls in dem Buch „Juden in Fellbach und Waiblingen 1933 – 1945“. Doch die Anwendung der erlassenen Gesetze sei „erstaunlich obrigkeitsgläubig und ohne feststellbaren Widerstand“ der Behörden erfolgt. „Menschliche Anteilnahme, die sich unter der Bevölkerung dennoch findet, hatte gegen den Gesetzesweg dieser Gesellschaft keinen wirklichen Stand mehr“, so Schultheiß.

Der Vernichtung entgangen

Das erlebte auch die Waiblinger Familie Deicher. Eugen Deicher hatte 1922 eine Jüdin, Gertrud Mayer, geheiratet. Die Nazis sprachen in diesem Fall von einer „privilegierten Mischehe“. Die gemeinsame Tochter Lore, die evangelisch getauft wurde, durfte als so genannter „Mischling 1. Grades“ jedoch keine höhere Schule besuchen. Diese und zahlreiche weitere Schikanen trieben Eugen Deicher 1940 in den Selbstmord, berichtet Schultheiß.

Während Gertrud Deicher danach in Stuttgart unterkam, bewohnte Lore das Elternhaus ihres verstorbenen Vaters in Waiblingen. Dort versuchte sie, möglichst nicht aufzufallen. Dabei vereinsamte die junge Frau mehr und mehr, auch weil sie im Gegensatz zu all ihren Freundinnen nicht in den Bund Deutscher Mädchen aufgenommen wurde – aufgrund ihrer jüdischen Mutter. Diese wiederum wurde im Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert, wo sie nur mit Glück den Transporten in die Vernichtungslager entging. Kurz vor ihrer Befreiung aus dem KZ erkrankte sie schwer. „Am 26. Juni 1945 trifft Gertrud Deicher in Waiblingen ein, wo sie direkt in das Kreiskrankenhaus eingeliefert wird. Ein volles Jahr sollte vergehen, bis sie wieder gehen konnte“, schreibt Hans Schultheiß. Ein Foto im Buch zeigt Mutter und Tochter nach dem Krieg glücklich vereint in Waiblingen. Beide haben überlebt.