Ernste Mienen wegen wohl deutlicher Veränderungen in der Region: die Regionaldirektorin Nicola Schelling (rechts) mit dem Grünen-Regionalrat Michael Lateier. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Erst kurz nach 1 Uhr in der Wahlnacht stand fest: Die Wählerinnen und Wähler in der Region Stuttgart haben Geschichte geschrieben. Erstmals seit 25 Jahren ist die CDU nicht mehr die stärkste Kraft in der Regionalversammlung, sondern die Grünen. Das hat weitreichende Folgen.

Stuttgart - Einer der spannendsten Wahlabende der Regionalpolitik zog sich am Sonntagabend bis weit nach Mitternacht. Dann stand fest: Die Grünen lösen die CDU nach 25 Jahren als stärkste politische Kraft in der Region Stuttgart ab, zu der die Landeshauptstadt und die fünf Kreise Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg und Rems-Murr gehören. Die Grünen holten 24,28 Prozent der Stimmen und lagen damit hauchdünn vor der CDU mit 24,15 Prozent. Dahinter folgen Freie Wähler (14,02 Prozent), SPD (12,45 Prozent), AfD (9,16 Prozent), FDP (7,42 Prozent), Die Linke (4,35 Prozent), ÖDP (2,07 Prozent), Piraten (1,35 Prozent). In der künftig 88-köpfigen Regionalversammlung haben die Grünen 22 Sitze, einen mehr als die CDU (21). Damit steht den Grünen auch das Vorschlagsrecht für den Regionalpräsidenten zu – ein Amt, das seit dem Jahr 2007 der CDU-Politiker Thomas Bopp aus Stuttgart inne hat.

Bopp hatte lange Zeit gehofft, dass die CDU ihre seit 1994 bestehende Vormachtstellung verteidigen kann. „Das wird eng bleiben bis zum Schluss, erst mit den Ausgleichsmandaten wird feststehen, wer stärkste Kraft in der Regionalversammlung ist“, sagte er kurz vor Mitternacht.

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Alles hing an Leonberg

Das Endergebnis der Regionalwahl verzögerte sich auch deshalb, weil die Stimmzettel erst nach denen der Europawahl ausgezählt wurden. Zuletzt standen noch Ergebnisse aus dem Kreis Böblingen aus, weil die Stadt Leonberg erst nach Mitternacht mit der Auszählung begonnen hatte. Deshalb konnte die Sitzverteilung erst nach 1 Uhr am Montagfrüh ermittelt werden.

Der Kreis Göppingen meldete um 23.11 Uhr als erster Wahlbezirk ein Endergebnis. Danach kam die CDU auf 25,85 Prozent, ein deftiges Minus von mehr als 13 Prozentpunkten. Die Grünen landeten mit einem Zuwachs von 8,5 Punkten auf 22,49 Prozent. Dahinter platzierten sich die Freien Wähler mit 13,72 Prozent (minus 3,17) und die SPD mit 13,44 Prozent (minus 5,29). Die AfD, die 2014 noch nicht im Bezirk Göppingen angetreten war, kam auf auf 12,3 Prozent, die FDP auf 6,2 Prozent, die Linke auf 3,0, die ÖDP auf 1,69 und die Piraten auf 1,3 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag mit 61,12 Prozent um fast 11,5 Prozentpunkte höher als 2014.

Kopf-an-Kopf-Rennen

Auch in den anderen Kreisen zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und Grünen ab. Im Kreis Ludwigsburg, der um 23.30 Uhr ausgezählt war, lag die CDU mit 23,9 Prozent denkbar knapp vor den Grünen, die es auf 23,6 Prozent brachten. Im Kreis Esslingen, fertig um 23.50 Uhr, lagen CDU (23,68 Prozent) und Grüne (23,66 Prozent) fast gleichauf. Im Rems-Murr-Kreis meldete um 0.30 Uhr das Endergebnis: Dort hatte die CDU freilich gut 13 000 Stimmen Vorsprung vor den Grünen, und im Kreis Böblingen waren es zu diesem Zeitpunkt fast 3000. Obwohl das offizielle Gesamtergebnis noch auf sich warten ließ, rechnete der CDU-Regionalfraktionschef Joachim Pfeiffer bereits damit, dass die Vorsprünge in den Kreisen nicht ausreichen werden, um die große Differenz zwischen Grünen und CDU in Stuttgart von mehr als 20 000 Stimmen auszugleichen. Doch das stand zu diesem Zeitpunkt – kurz nach 23.30 Uhr – noch nicht fest. Allerdings war klar, dass die allgemeine politische Wetterlage auch das Regionalwahlergebnis bestimmen wird: teilweise dramatische Verluste für CDU und SPD, große Gewinne bei Grünen und Zuwächse bei der AfD.

Auf dem Rasen vor dem Neuen Schloss, genossen junge Menschen die letzten Sonnenstrahlen des Tages, als die Genossen im Cube zu Beginn des dramatischen Wahlabends nach Erklärungen für das bereits feststehende Desaster bei den Wahlen für Europa und Bremen suchten und wussten, dass auch die Regionalwahl keine grundlegend anderen Ergebnisse bringen würde. „Uns fehlt die junge Generation“, sagte der SPD-Fraktionschef Harald Raß.

Grüne sind bester Laune

Nicht viel fröhlicher gestimmt war die CDU-Riege um die Regionalräte Elke Kreiser und Rainer Ganske, die den Gegenwind aus Berlin und die Gewinne der AfD für die CDU-Verluste verantwortlich machten. „Wir müssen wieder konservative Kante zeigen“, meinte die Stuttgarter Regionalrätin Monica Wüllner. Bester Laune dagegen war die Grünen-Regionalrätin Heike Schiller, die schon um 19.30 Uhr davon sprach, dass die Grünen als stärkste Fraktion in die Regionalversammlung einziehen könnten.

So weit wollte ihr Parteifreund, der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, aber nicht gehen, der um 21.21 Uhr ziemlich gelöst das Restaurant Cube betrat. In der Region Stuttgart insgesamt dürften seine Grünen zwar nicht ganz so stark abschließen wie in der Landeshauptstadt, aber für ihn ist klar: „In Stuttgart sind wir auch bei der Regionalwahl die stärkste Kraft, ich bin allerdings nicht so vermessen, eine Prognose für die Region zu wagen.“ Dass seine Grünen aber der CDU näher rücken, das ist für den stellvertretenden Regionalpräsidenten klar. Wenig später wurden die Ergebnisse von Böblingen und Göppingen bekannt: In den beiden Kreishauptstädten lagen die Grünen vor der CDU.

Nervosität bei den Platzhirschen

Während die Grünen freudig diese ersten Ergebnisse zur Kenntnis nehmen, nimmt gegen 22.30 Uhr die Nervosität bei den früheren bürgerlichen Platzhirschen von CDU und Freien Wählern zu. In immer mehr Städten, nun auch in Ludwigsburg, Kornwestheim, Ostfildern, Kirchheim/Teck, Nürtingen und Leinfelden-Echterdingen liegen die Grünen vor den Christdemokraten. „Unser Ziel ist, die stärkste Kraft in der Region zu bleiben“, sagt der CDU-Fraktionschef Pfeiffer, „aber ob das klappt, ist momentan tatsächlich unklar.“ Man sieht ihm an, dass das hart ist für einen, der seit 1994 jede Regionalwahl souverän gewonnen hat.

Klar ist auch, dass die SPD ihren im Jahr 2014 nur knapp verfehlten zweiten Platz deutlich nicht erreicht, sondern nach den ersten Trends sogar befürchten muss, den dritten Platz an die Freien Wähler zu verlieren, was dann auch so eintrat. Die SPD hat nur noch elf Sitze, die Freien Wähler zwölf. „Für uns ist das natürlich heftig“, sagt SPD-Sprecher Harald Raß. Verluste in Höhe von rund fünf Prozent dürften seiner Fraktion bis zu einem Drittel der 15 Mandate kosten. Prominentes Opfer: der Ditzinger OB Michael Makurath. Grund dafür sei die politische Großwetterlage. Die SPD verlor seit 1994 bei jeder Wahl an Kraft. Die AfD, die erstmals in allen sechs Wahlbezirken der Region Stuttgart antrat, verbuchte deutliche Gewinne vor allem in den Kreisen. Sie kam auf acht Sitze und bildet damit erstmals eine eigene Fraktion. Zuwächse hatte auch die FDP, die nun mit sieben Sitzen wieder eine Fraktion bildet. Die Linke kam auf vier Mandate, was dort für Enttäuschung sorgen wird. Linken-Fraktionssprecher Christoph Ozasek hatte sich gegen Mitternacht noch zuversichtlich gezeigt, dass seine Linke dieses Mal aus eigener Kraft Fraktionsstärke erreiche: fünf Mandate. Die ÖDP (2 Sitze) und die Piraten (ein Sitz) ziehen ebenfalls wieder in die Regionalversammlung ein, während die erstmals angetretenen Tierschutzpartei ( nur in Stuttgart) und die Freie Regionale Rems-Murr (Ableger der FDP-Regionalrätin Gudrun Wilhelm) den Einzug verpasste.

Zwei Millionen zur Wahl aufgerufen

Am Sonntag waren zwei Millionen Menschen zur Wahl der Regionalversammlung aufgerufen. Wählen durfte, wer mindestens 16 Jahre alt und deutscher Staatsbürger ist. Andere EU-Bürger sind bei der Regionalwahl im Gegensatz zu den Gemeinderats- und Kreistagswahlen nicht wahlberechtigt, weil sich das Unionsbürgerwahlrecht nur auf „lokale Gebietskörperschaften der Grundstufe“ im Sinne der Europäischen Union erstreckt. Und das sind nur Gemeinden und Landkreise.

Bei der Wahl 2014 wurde die CDU mit 35 Prozent die stärkste Kraft. Dahinter folgten die Grünen und die SPD mit 17,1 Prozent, allerdings schoben sich die Grünen mit 166 134 Stimmen und einem Vorsprung von lediglich 86 Stimmen erstmals auf Rang zwei. Die Freien Wähler landeten bei 14,9 Prozent. Die weiteren Ergebnisse: Linke 4,1 Prozent, FDP 4,0 Prozent, AfD 3,6 Prozent, Republikaner (REP) 1,6 Prozent, ÖDP 1,5 Prozent und schließlich Piraten 1,1 Prozent.

In der Regionalversammlung mit 87 Sitzen entfielen auf die CDU 30, auf die Grünen 15, auf die SPD 15, auf die Freien Wähler 13, auf FDP und Linke je vier, auf die AfD drei und auf REP, ÖDP und Piraten je ein Sitz. Allerdings verstärkte der ÖDP-Regionalrat die Grünen-Fraktion, der Pirat dockte bei den Linken an, ein AfD’ler bildete mit dem REP-Regionalrat die sogenannte Innovative Gruppe.